Fachpublikation

Wissenschaft oder Dummheit? Über die Zerstörung der Rationalität in den Bildungsinstitutionen

Thema

Wandel und Reorganisation der Hochschulen

Herausgeberschaft

Rosa-Luxemburg-Stiftung

Autoren/Autorinnen

Alex Demirović

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2015

Stiftungsengagement

Rosa-Luxemburg-Stiftung

Literaturangabe

Alex Demirović: Wissenschaft oder Dummheit? Über die Zerstörung der Rationalität in den Bildungsinstitutionen. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hamburg 2015.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Die Publikation versammelt Beiträge von Prof. Dr. Alex Demirović, Apl. Professor an der Goethe Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. Sein Ansatz ist der Denkschule der „kritischen Theorie“ zuzuordnen. Im Mittelpunkt des Bandes steht die Entwicklung und Reorganisation der Hochschulen seit den 1990er Jahren. Demirović übt Kritik am „neokonservativen und neoliberal betriebenen Umbau der Hochschulen und Wissenschaft in Deutschland“, der sich seit etwa zwei Jahrzehnten vollziehe. In seinen Aufsätzen hinterfragt er diesen Prozess kritisch und lotet die damit verbundenen Folgen aus. Für Demirović ist die entscheidende Frage, welche Konsequenzen diese Veränderungen für die Bedingungen der Möglichkeit kritischer Wissensproduktion und die Entfaltung eines „emanzipatorischen Wissens- und Wahrheitsregimes“ an Hochschulen haben.

Die Aufsätze der Publikation bewegen sich im Grenzbereich einer politischen Epistemologie, wo sich Fragen der Hochschulen, der Wissenschaft, der kritischen Wissensproduktion sowie der (politischen) Bildung berühren.

Eine wesentliche These von Demirović ist, dass sich die Hochschulreorganisation nicht nur gegen kritische Wissenschaft, sondern auch gegen kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler richtet. Wie sich dies konkret darstellt, beleuchtet er in den verschiedenen Beiträgen, in die auch Ergebnisse von Diskussionen mit Studierendengruppen eingeflossen sind. Diese Debatten fanden oft auf Veranstaltungen statt, die von der GEW oder vom Bund demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen durchgeführt wurden.

Wichtige Ergebnisse

Aus Demirovićs Sicht war die Situation an den Hochschulen vor ihrer Reorganisation in den 1990er Jahren deutlich besser als heute. Seit den 1960er Jahren seien die Hochschulen durch die Initiative und das Engagement unterschiedlichster Akteure aus Wissenschaft, Medien und Bildungspolitik, aber auch aus den Reihen der Protestbewegungen von Studierenden und Schülerinnen und Schülern zu einem gewissen Umfang demokratisiert worden. Hochschulen hätten sich damals zu Orten entwickelt, an denen kritische Forschung und damit ein unerwartetes Maß an akademischer und intellektueller Freiheit möglich wurde.

In den 1990er Jahren habe jedoch die „neoliberale Konterrevolution“ in der Gesellschaft auch die Hochschulen erfasst: Seitdem nehme die soziale Ungleichheit unter Studierenden, Fächern und Hochschullehrenden wieder zu, die Hochschulen würden entdemokratisiert und die Erzeugung und Zirkulation kritischen Wissens werde deutlich erschwert und marginalisiert.

Die Reorganisation der Hochschulen sei von einem bestimmten Diskurs begleitet gewesen: Man habe davon gesprochen, dass die Hochschulen von innen her „verrottet“ seien und dass die Ansprüche auf Demokratisierung als Blockade wirkten. Forderungen nach Gleichheit in der Bildung und die Erwartung, eine große Zahl von Individuen auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau auszubilden, seien als Mythos zurückgewiesen worden. Im Namen von Wettbewerb und Leistung, von Elite und Exzellenz sollten die Hochschulen mehr Autonomie erhalten und zu Dienstleistungsunternehmen umgebaut werden.

Seitdem sei festzustellen, dass ökonomienahe Rationalitätskalküle und Steuerungstechniken dazu beitragen, dass Hochschulen auf neue Weise geleitet und ausgestaltet werden. Demirović nennt folgende Aspekte:

  • Hochschulleitungen sind keine Kollegialorgane mehr,
  • Hochschullehrende verlieren viele ihrer Freiheiten und werden dem gesteuerten Leistungswettbewerb ausgesetzt,
  • Studierende werden nicht mehr als akademische Mitbürgerinnen und Mitbürger, sondern als Kundinnen und Kunden angesehen,
  • Hochschulen werden fragmentiert und differenziert in solche für avancierte Forschung (Exzellenz, Leuchttürme) und hochstandardisierte Ausbildung,
  • es bilden sich Oligopol-, Eigentums- und Verknappungsmechanismen im Hochschulsystem.

Neue Machttechniken und Herrschaftspraktiken würden auch das Wissen zunehmend seiner emanzipatorischen Aspekte berauben. Bildung im anspruchsvollen Sinn lässt sich nach Demirović aber nur gewährleisten, wenn Individuen dazu befähigt werden, an der Gestaltung ihrer Verhältnisse mitzuwirken. Die „neoliberale Reorganisation“ der Hochschulen leiste jedoch Tendenzen der Entdemokratisierung, der Ungleichheit, der Konkurrenz, des Elitären und des Konformismus Vorschub. Dadurch werde Bildung ausgehöhlt oder gar – im Sinne der arbeitsmarktnahen Praxisausbildung – ganz auf sie verzichtet.

Demirović vertritt die Ansicht, dass die Hochschulen dadurch ökonomischen Imperativen unterworfen werden: Sie sollen für den Markt funktionieren, der sich selbst durch Shareholder-Value-Orientierung und Finanzialisierung verändert hat. Sie sollen auch näher an die Wirtschaft gerückt werden, flexibler auf deren Bedürfnisse reagieren und selbst unternehmerisch werden (Konzept der „unternehmerischen Hochschule“).

Dazu würden sie mit neuen Steuerungsinstrumenten auch nach innen ökonomisiert. Doch komme es nicht zu einer Entdifferenzierung der Funktionssysteme Wissenschaft und Ökonomie: Da die Hochschulen weiterhin ein Staatsapparat seien, würden sie auch weiterhin – ungeachtet aller Behauptung ihrer Autonomie – politisch gesteuert werden und sie seien gekennzeichnet von spezifischen Machtprozessen, die eng mit Wissen verbunden sind.

Heute werde die Herrschaftstechnik „Pluralisierung der wissenschaftlichen Diskussion von innen“ in großem Maßstab eingesetzt, so Demirović, wodurch es revolutionäre Gedanken und kritische Ideen sehr schwer hätten. Das Wissens- und Wahrheitsregime verändere sich durch Pluralisierung: Es gebe keine paradigmatischen Unvereinbarkeiten mehr, da alles mit allem zusammenpassen solle. Eklektizismus werde als Erkenntnisfortschritt angepriesen. Gleichzeitig werde das Spektrum der wissenschaftlichen Positionen mittels der neuen Steuerungsinstrumente – also direkt und autonom aus dem universitären Apparat heraus und viel feiner, als das die Ministerien könnten – von den Hochschulleitungen überwacht; die vielfältigen und feingliedrigen Mechanismen der Forschungs- und Lehrsituation regulierten die Wissensproduktion in einer Weise, die dazu führe, dass die kritische Dynamik des Wissens, wenn sie dennoch entsteht, begrenzt bleibt.

Doch trotz aller Bemühungen, eine „angepasste Hochschule“ herzustellen, gibt es nach Demirović viele Anzeichen dafür, dass dies nicht vollständig gelinge und sich immer wieder Widerstände bemerkbar machen. Dazu gehörten

  • der Verzicht auf eine Professur,
  • der Brain Drain von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern,
  • die Verweigerung von Fachverbänden, sich an Rankings zu beteiligen,
  • der Ausstieg einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Verbundforschung,
  • der hinhaltende Widerstand gegen Vorgaben zur weiteren und erneuten Reorganisation von Studiengängen oder Instituten,
  • die vorläufig erfolgreichen Kämpfe gegen die Studiengebühren und Anwesenheitspflichten,
  • die Auseinandersetzung um die arbeitsrechtlichen Verbesserungen der Hochschulbeschäftigten.

Was jedoch fehle, sei eine große Initiative für anspruchsvolle Theorie und Bildung sowie für eine entsprechende gesellschaftliche Neugestaltung emanzipatorischer und demokratischer Formen der Wissenschaftserzeugung und -zirkulation.