Studie mit Handlungsempfehlungen

Wie gelangt das Potenzial guter Ganztagsschulen in die Fläche?

Thema

Ausbau von guten Ganztagsschulen

Herausgeberschaft

Bertelsmann Stiftung

Autoren/Autorinnen

Nicole Hollenbach-Biele/Dirk Zorn

Erscheinungsort

Gütersloh

Erscheinungsjahr

2015

Stiftungsengagement

Bertelsmann Stiftung

Literaturangabe

Nicole Hollenbach-Biele/Dirk Zorn: Wie gelangt das Potenzial guter Ganztagsschulen in die Fläche? Versuch einer Zwischenbilanz und Empfehlungen. Gütersloh 2015.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Hintergrund ist, dass der Ausbau von Ganztagsschulen in Deutschland – unterstützt durch verschiedene Bund-Länder-Programme – in den vergangenen 15 Jahren vorangetrieben worden ist. Ganztägiges Lernen wird zunehmend zum Standard und viele Schulen verfügen bereits über ein ganztägiges Angebot.

Die formalen Kriterien von Ganztagsschule sind durch die Kultusministerkonferenz (KMK) klar definiert:

„Ganztagsschulen sind demnach Schulen, die im Primar- oder Sekundarbereich I

  • an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot für die Schülerinnen und Schüler anbieten, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst,
  • an allen Tagen des Ganztagsbetriebs ein Mittagessen für die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler bereitstellen,
  • die Ganztagsangebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert und enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden sowie in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht stehen.“ (KMK 2013)

Bei der Ausgestaltung des Ganztags sind in den Schulen allerdings große Unterschiede in Bezug auf den formalen Rahmen, die organisatorische Umsetzung und das inhaltliche Angebot festzustellen. Zudem haben alle Bundesländer jeweils eigene Kriterienkataloge und sehr unterschiedliche Qualitätsvorgaben entwickelt. Die bundesweite Landschaft der Ganztagsschulen ist relativ intransparent und besteht aus einer Vielzahl unterschiedlichster Organisationsmodelle. Dazu gehören unter anderem Unterschiede in den Bezeichnungen, verschiedene Regelungen zur Kostenbeteiligung durch Eltern und zur Betreuung von Kindern in den Ferien, große Unterschiede in der inhaltlichen Ausgestaltung des Schulalltags. Grundannahme ist, dass der Ganztagsschulausbau in Deutschland unter einem massiven konzeptionellen Vakuum leidet.

Der Beitrag von Nicole Hollenbach-Biele und Dirk Zorn (Projekt „Heterogenität und Bildung“ bei der Bertelsmann Stiftung) widmet sich der Frage, wie der Ausbaustand des Ganztags in Deutschland in der gegenwärtigen Forschung bewertet wird und welche Handlungsempfehlungen für die Politik daraus abzuleiten sind.

Wichtige Ergebnisse

Forschungsergebnisse zum Ausbaustand des Ganztags in Deutschland

Das Resümee lautet, dass nach den Ergebnissen des größten Teils der Ganztagsforschung als wissenschaftlich gesichert lediglich gelten kann, dass der Besuch einer Ganztagsschule Schülerinnen und Schülern nicht schadet und bestehende Unterschiede in Leistung und Bildungschancen nicht vergrößert werden (wie das bei anderen Schulen der Fall ist). Diese Bewertung erscheine angesichts der großen Hoffnungen, die mit Ganztagsschulen verknüpft waren, zunächst ernüchternd: Schließlich habe man Ganztagsschulen als eine zentrale Stellschraube im Schulsystem angesehen, um fachliche und überfachliche Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern besser zu fördern und gleichzeitig für mehr Chancengerechtigkeit für Kinder aus sozial benachteiligten Familien zu sorgen.

Allerdings zeigten wissenschaftliche Analysen auch, dass ein regelmäßiger Besuch einer Ganztagsschule mit einer hohen Angebotsqualität bei Kindern und Jugendlichen positive Entwicklungen fördert, zum Beispiel ein verbessertes Sozialverhalten, steigende Lernmotivation und Freude an der Schule, ein geringes Risiko der Klassenwiederholung und bessere Schulnoten. Tendenziell seien es rhythmisierte, gebundene Ganztagsschulen, die solche Bedingungen bieten und somit ganzheitliche Bildungsprozesse unterstützen können. Allerdings stellt dieser Organisationstyp unter allen Schulen aktuell nur einen sehr geringen Anteil dar – bei Grundschulen sind es nur knapp zwei Prozent aller Schulen (vgl. Aktionsrat Bildung 2013).

Es sei wichtig, dass Schulen der Zukunft tendenziell zu Lernorten werden, an denen die individuelle Förderung zum bestimmenden Element des Schulalltags ist, vor allem deshalb, weil die Heterogenität der Schülerschaft weiter wachsen wird. Ganztagsstrukturen würden für den Umgang mit Heterogenität und der Verankerung des Prinzips der individuellen Förderung besondere Vorteile bieten, da gute Ganztagsschulen für eine andere Lern- und Schulkultur und für eine stärkere lebensweltliche Öffnung von Schule stünden.

Folgende Aspekte einer guten Ganztagsschule werden benannt: Durch Rhythmisierung könnten Lehr- und Lernformen variiert werden, Anspannungs- und Entspannungsphasen sich abwechseln. Die Verzahnung von Curricula mit Projektangeboten ermögliche ein breiteres Bildungs- und Leistungsverständnis und schaffe neue, flexible und an die kindlichen Bedürfnisse ausgerichtete Chancen fürs individuelle (und soziale) Lernen, flankiert durch die multiprofessionelle Kooperation aller am Lernprozess beteiligten Akteure. Das Mehr an gemeinsamer Zeit biete zusätzliche Chancen für das Erlernen einer wertschätzenden Umgangskultur und die Anerkennung von Vielfalt als Bereicherung. Schülerinnen und Schüler könnten die Bedeutung gesellschaftlichen Engagements erfahren, indem ihnen Möglichkeiten zu Partizipation und Verantwortungsübernahme im regionalen Bildungsraum geboten werden. Guter Ganztag nutze zudem die Chance, die sich unter anderem durch geteilte Mahlzeiten und das Mehr an Zeit im Lebensraum Schule allgemein bietet, Möglichkeiten zur kulturellen Bildung, zur Gesundheitserziehung, zur beruflichen Entwicklung etc. in den Bildungsauftrag zu integrieren und sich damit für die Lebenswelt seiner Schülerinnen und Schüler zu öffnen.

Angesichts des gegenwärtigen Ausbaustands der Ganztagsschulen gelinge es bisher aber nur an wenigen Stellen, das Potenzial des Ganztags auszuschöpfen, obwohl dies angesichts der zunehmenden Heterogenität in den Klassenzimmern immer wichtiger werde. Bereits heute gebe es viele Beispiele guter Schulen, die den Ganztag als organisatorischen Rahmen für den Umgang mit Vielfalt nutzen.

Eine wichtige Aufgabe wird nun darin gesehen, diese positiven Erfahrungen auf alle Schulen zu übertragen und damit das ganztägige Lernen flächendeckend zu etablieren. Nur dann könnten Lern- und Lebensräume geschaffen werden, von denen möglichst alle Kinder und Jugendliche in Deutschland profitieren. Dafür bräuchten Schulen jedoch Unterstützung: Nur mit einer Gesamtstrategie von Bund, Ländern und Kommunen könne erreicht werden, das Potenzial von Ganztagsschulen systematisch besser auszuschöpfen und die Umsetzung eines guten Ganztags nicht länger dem Engagement und der Initiative einzelner Akteure vor Ort zu überlassen.

Für ein flächendeckendes Angebot guter Ganztagsschulen müsse eine solche Gesamtstrategie zwei Stoßrichtungen verfolgen: Zum einen sollte ein inhaltlicher Fokus auf die qualitativ hochwertige Ausgestaltung und Organisation des Ganztags gerichtet werden, und gleichzeitig sollte ein Impuls zur Beschleunigung des deutschlandweiten Ausbaus gesetzt werden.

Notwendig seien verbindlich vereinbarte und länderübergreifend vereinheitlichte Qualitätsstandards, die Orientierung geben und das konzeptionelle Vakuum zu schließen helfen. Empfehlungen zur Organisation des Ganztags (Zeitstrukturierung, Verzahnung curricularer und außercurricularer Angebote, multiprofessionelle Zusammenarbeit, Kooperation mit Partnern, Realisierung von Inklusion im Ganztag etc.) sowie zum Prozess der Ganztagsschulentwicklung müssten Klarheit darüber schaffen, was eine gute Ganztagsschule auszeichnet und wie die Transformation der Schulgemeinschaft gelingen kann. Sinnvoll wäre zudem eine klare politische Selbstverpflichtung zugunsten des gebundenen Ganztags, da alle Befunde darauf hindeuteten, dass die verbindliche Teilnahme aller Schülerinnen und Schüler bessere Wirkungen entfaltet und gleichzeitig unterschiedliches Nutzungsverhalten nach sozialer Herkunft minimiert.

Gute Ganztagsschulen sollten zum Regelfall in Deutschland werden, so die Schlussfolgerung der Studie, doch sei ein Zwang zum Ganztag nicht sinnvoll. Eltern sollten von der Qualität eines Ganztagsplatzes überzeugt werden und sich bewusst für den Besuch einer Ganztagsschule entscheiden können. Dafür brauche es nicht nur ein gutes, sondern auch ein breit verfügbares Angebot. Die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Platz an einer gebundenen Ganztagsschule könnte den dazu notwendigen politischen Systemdruck erzeugen, der die Bereitstellung eines entsprechenden Angebots befördert. Gebundene Ganztagsschulen müssten zudem ausreichend finanziert werden. Bei einer flächendeckenden Einführung gebundener Ganztagsschulen sei mit hohen Kosten zu rechnen, die nur von Bund und Ländern gemeinsam getragen werden können.