Studie mit Handlungsempfehlungen

Wie DAX-Unternehmen Schule machen

Thema

Lobbyismus von Unternehmen an Schulen

Herausgeberschaft

Otto Brenner Stiftung

Autoren/Autorinnen

Tim Engartner

Erscheinungsort

Frankfurt am Main

Erscheinungsjahr

2019

Stiftungsengagement

Otto Brenner Stiftung, Hans Böckler-Stiftung

Literaturangabe

Tim Engartner: Wie DAX-Unternehmen Schule machen. Lehr- und Lernmaterial als Türöffner für Lobbyismus. Ein Projekt der Otto Brenner Stiftung (OBS-Arbeitsheft 100). Frankfurt am Main 2019.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Die vorliegende Publikation und die zugrunde liegende Studie der Otto Brenner Stiftung wurde von Prof. Dr. Tim Engartner verfasst, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er zeichnet am Beispiel der dreißig DAX-Unternehmen nach, in welchem Umfang, auf welchen Wegen und mit welchen Inhalten diese großen Unternehmen in Deutschland über Unterrichtsmaterialien versuchen, Einfluss auf Schülerinnen und Schüler zu nehmen. Die Publikation wurde von der Hans Böckler-Stiftung unterstützt.

DAX-Unternehmen werden beispielhaft analysiert, um festzustellen,

  • wie die Einflussnahme über Lehr- und Lernmaterialien organisiert wird,
  • welche Türöffner und Motive sich für diese Form des schulischen Lobbyismus identifizieren lassen und
  • was Lehrkräfte gegen die inhaltliche Einflussnahme tun können – als Einzelne, als Schulgemeinschaft oder auch gemeinsam mit den (bildungs)politisch Verantwortlichen.

Die vorliegende Studie analysiert den unterrichtsmaterialbasierten Lobbyismus der im DAX notierten Unternehmen, weil diese

  • eine große Bandbreite von Branchen abbilden,
  • eine Leitfunktion für die deutsche Wirtschaft haben,
  • eine besondere Sichtbarkeit in der medial interessierten Öffentlichkeit aufweisen,
  • über vergleichsweise hohe Budgets für ihre Marketing- und Kommunikationsabteilungen verfügen.

Die Forschungsfragen der Studie waren:

  • Wie aktiv sind die Unternehmen im Schulmarketing, d.h. inwieweit engagieren sie sich für die Produktion und Distribution von Unterrichtsmaterialien, die Freistellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Schulveranstaltungen sowie die Verfügbarmachung ihrer Produkte und Dienstleistungen in Schulen?
  • In welchem Kontext finden Unterrichtsmaterialentwicklung und -distribution statt, d.h. inwieweit werden sie von Praxiskontakten sowie Schul-, Klassen- und Schülerwettbewerben begleitet?
  • Gibt es ein besonderes unternehmerisches Engagement an Schulen mit Blick auf Branchen, Regionen, Schultypen und Jahrgangsstufen (bzw. Altersgruppen)?

Darüber hinaus wurden ausgewählte Unterrichtsmaterialien, die von den Unternehmen veröffentlicht oder beauftragt wurden, in Bezug auf drei Aspekte analysiert:

  • ihre thematische Fokussierung,
  • ihre didaktisch-methodische Gestaltung und
  • ihre pluralistische Ausrichtung.

Der Begriff der Lehr- und Lernmaterialien umfasst nicht nur „klassische“ Unterrichtsmaterialien, sondern auch pädagogische Begleitmaterialien für Exkursionen, Betriebserkundungen, Schulprojekte und Museumsbesuche sowie web- oder produktbasierte Lehr- und Lernarrangements.

Die Unternehmensaktivitäten werden in Bezug auf eigene Unterrichtsmaterialien nach vier Clustern kategorisiert:

  • Unternehmen, die keine unternehmenseigenen Angebote vorhalten (Adidas, Covestro, Deutsche Lufthansa, Fresenius und Fresenius Medical Care, Linde, Merck, thyssenkrupp, Vonovia, Wirecard),
  • Unternehmen mit einer geringen Zahl von Angeboten (BMW, Continental, Deutsche Bank, Deutsche Börse, Deutsche Telekom, Infineon Technologies, Munich RE, SAP, Volkswagen),
  • Unternehmen mit mittelgroßem Angebot (Allianz, BASF, Bayer, Beiersdorf, HeidelbergCement, RWE),
  • Unternehmen mit einem (sehr) umfänglichen Angebot (Daimler, Deutsche Post, E.ON, Henkel, Siemens).

Die Angebotsintensität der Unternehmen wird jedoch nicht nur durch Unterrichtsmaterialien selbst bestimmt, sondern auch durch die Zahl der für Schulbesuche freigestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Professionalität der angebotenen Betriebs- und Werksbesichtigungen sowie die Einbindung unternehmerischer Aktivitäten in die Arbeit von Stiftungen.

Methodisch wurde für die qualitativ angelegte Studie vorrangig auf webbasierte Informationen zurückgegriffen, die auf Literatur- und Internetrecherchen basieren.

Wichtige Ergebnisse

Zunehmender Lobbyismus von Unternehmen an Schulen

Der Autor stellt fest, dass der Einfluss von Industrie und Wirtschaft auf Schülerinnen und Schüler stetig wächst. Das schulische Engagement von Unternehmen beschränke sich dabei nicht nur auf das Sponsoring von Schulfesten, die Bezuschussung von Klassenausflügen, die Einrichtung von Schülerlaboren oder die Auslobung von Schulpreisen. Immer stärker zeige sich eine Tendenz von Unternehmen, Unterrichtsmaterialien an Schulen zu verbreiten, der als konkreter Lobbyismus wirkt. Die Akteure dieses Lobbyismus an Schulen seien zahlreich: Unternehmen, Verbände, Stiftungen, Initiativen, aber auch einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Häufig liege dem Engagement der Unternehmen das Motiv zugrunde, die Bedürfnisse der Kinder möglichst früh zu beeinflussen – schließlich werde im Marketing davon ausgegangen, dass Markenpräferenzen vor allem in jungen Jahren entwickelt werden und die „Produkt- und Geschmacksvorlieben“ von Kindern und Jugendlichen oft über Jahrzehnte stabil bleiben. Ein Unternehmen könne seinen „Werbe“-Etat also kaum effizienter als im Klassenraum einsetzen. Zudem zeige sich, dass Unternehmen nicht nur an früher Kundengewinnung interessiert sind, sondern immer wieder auch ideologische Ziele verfolgen: Manche Unternehmen wirkten zum Beispiel darauf hin, dass in Schulen eine bestimmte „Werthaltung“ gelehrt wird, andere propagierten unternehmensnahe Weltbilder in der Schule.

Ursachen dieser Entwicklung

Wichtige Ursachen für diese Entwicklung sieht der Autor in der Unterfinanzierung des Schulsystems mit gravierenden Folgen: sanierungsbedürftige Schulgebäude, gesunkene Schulbuchetats, begrenzte Papierkontingente, fachfremd unterrichtende Lehrkräfte und einer Erosion der Lernmittelfreiheit. Vor diesem Hintergrund könnten die Unternehmen leicht Einfluss auf Unterrichtsinhalte nehmen: Das zentrale Vehikel sei dabei die Finanzierung, die Entwicklung und die (meist kostenlose) Verbreitung von Unterrichtsmaterialien – manchmal verbunden mit der Entsendung unternehmenseigener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Lehrpersonal im Zuge des „corporate volunteering“ (d.h. der Freiwilligenarbeit im Dienste des Unternehmens).

Nach Auffassung des Autors hat die bildungspolitisch forcierte Öffnung von Schule inzwischen höchst bedenkliche Ausmaße angenommen. Die Anfänge reichten schon weiter zurück, was eine im Rahmen der PISA-Studie 2006 durchgeführte Befragung verdeutlicht hatte: Damals hatten fast 90 Prozent der befragten Schulleitungen in Deutschland angegeben, dass Wirtschaft und Industrie Einfluss auf die Lehrinhalte ausüben. Diese Einflussnahme sei seitdem weiter gestiegen und werde mit dem „Digitalpakt“ für Schulen noch einmal stark an Bedeutung zunehmen. Bereits heute hätten digitale Informationsquellen für unterrichtsrelevante Inhalte einen hohen Stellenwert. Zu diesem Ergebnis sei zum Beispiel eine Studie des Rats für kulturelle Bildung von 2019 gekommen: Demnach nutzt die Hälfte der Schülerinnen und Schüler YouTube-Videos, um sich Sachverhalte verständlich und einprägsam erklären zu lassen. Aber nicht nur die Digitalisierung der Lernumgebung ebne dem unterrichtsmaterialbasierten Lobbyismus an Schulen den Weg: Problematisch sei, dass viele Lehrkräfte die Qualität der von den Unternehmen zur Verfügung gestellten Unterrichtsmaterialien nicht sicher beurteilen könnten, obwohl diese oft fachdidaktisch, inhaltlich und/oder methodisch defizitär sind. Ein wesentlicher Grund liege darin, dass die Analyse von Unterrichtsmaterialien weder im Studium noch im Rahmen des Referendariats ausreichend thematisiert werde. Hinzu komme, dass die Schulen – angetrieben von ihrem höheren Autonomiegrad und im Wettstreit um Schülerinnen und Schüler – zunehmend auf Profilschärfungen setzen und daher deutlich mehr Zeit für Marketingaktionen und unterrichtsferne Projekte aufwenden. Wenn dadurch Zeit für die Unterrichtsvorbereitung fehlt, würden Lehrkräfte gerne auf die von den Unternehmen bereitgestellten Materialien zurückgreifen.

Der Autor macht deutlich, dass der Adressatenkreis des auf Schulen gerichteten Lobbyismus sehr groß ist: Im Jahr 2019 besuchten in Deutschland ca. 8,4 Millionen Schülerinnen und Schüler eine allgemeinbildende Schule, rund 2,5 Millionen Jugendliche lernten an Berufsschulen und etwa drei Millionen Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren wurden in Kindergärten, -horten und -tagesstätten betreut.

Werbung an Schulen sei zwar in den meisten Bundesländern verboten, doch würden die entsprechenden Gesetze zu viele Interpretationsspielräume lassen. Wenn zum Beispiel eine Schulleitung mit Zustimmung der Schulkonferenz und des Schulträgers selbst darüber befinden kann, wann Werbung mit dem Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule vereinbar ist, stünden die Einfallstore für Werbung weit offen – insbesondere aufgrund der chronischen Unterfinanzierung der Bildungseinrichtungen.

Die prekäre finanzielle Situation des Bildungswesens in Deutschland werde nicht nur dort deutlich, wo Schulleitungen sich genötigt sehen, über private Initiativen wie die Aktion „Bildungslückenfüller“ Spenden für Computer, Türen und Regale einzuwerben. Die Sparpolitik führe dazu, dass immer mehr private Anbieter mit ihren Bildungsinhalten an die Schulen drängen und die Werke etablierter Schulbuchverlage ergänzen oder verdrängen. Zudem schwinde die übliche Qualitätskontrolle bei Schulbüchern, insbesondere bei den ständig anwachsenden Online-Unterrichtsmaterialien.

Der Autor verweist auf die großen Gefahren dieser Entwicklung: Die Verschiebung der Angebotskonstellationen sei bedenklich, weil Lehr- und Lernmaterialien, die von privaten Anbietern für den Schulkontext zur Verfügung gestellt werden, keine kultus-, bildungs- oder schulministerielle Prüfung wie Schulbücher durchlaufen. Diese mangelnde Qualitätskontrolle habe Folgen: Bei einer Untersuchung des Verbraucherzentrale Bundesverbands e.V. (vzbv) von 2014 unter rund 450 frei verfügbaren Unterrichtsmaterialien wurden ca. 50 Prozent nur mit den Noten „ausreichend“ oder „mangelhaft“ bewertet.

Die unternehmerischen Einflüsse auf Schulen sind nach Ansicht des Autors so erheblich, dass die Schule als neutrale Bildungsinstanz durch das Aufeinanderprallen von Gewinn- und Gemeinwohlorientierung gefährdet wird. Dieser Wandel, der auch als „Ökonomisierung des Schulwesens“ bezeichnet werden könne, werde von Unternehmen, Industrie- und Handelskammern, Wirtschaftsverbänden, unternehmensnahen Thinktanks, arbeitgeberfreundlichen Rundfunk- und Zeitungsredaktionen sowie konservativen und wirtschaftsliberalen Parteien vorangetrieben.

Aus Sicht des Autors finden hier massive Angriffe auf ein Bildungsideal statt, das auf Aufklärung zielt. Das Thema „Lobbyismus an Schulen“ sei in seiner Reich- und Tragweite kaum zu überschätzen: Immerhin seien im Internet derzeit rund 800.000 kostenlose Lehrmaterialien zur Unterrichtsgestaltung verfügbar, die von Lehrkräften auch in der Praxis eingesetzt werden. Der weitaus größte Teil stamme dabei von Unternehmen bzw. deren Verbänden oder Stiftungen. Es sei davon auszugehen, dass diese Angebote auch zukünftig breit genutzt werden und weitere Angebote hinzukommen. Die negative Folge sei eine schleichende Privatisierung des Lehrplans, da Unternehmen nicht nur die Themen, sondern auch die Perspektiven darauf (mit)bestimmen. Vor dem Hintergrund dieses breitenwirksamen Phänomens werde deutlich, das die vormals um Aufklärung, Mündigkeit und (Selbst-)Reflexion bemühte Bildungsinstitution Schule erodiert.

Wichtige Ergebnisse der Studie 

Ein Ergebnis lautet, dass zwei Drittel der untersuchten DAX-Unternehmen unmittelbar in die Produktion von Lehr- und Lernmaterialien eingebunden sind; fast alle davon richten sich mit expliziten Angeboten an Kinder in der Primarstufe, manchmal sogar an Kindergartenkinder. Diesem massiven „Engagement“ der Unternehmen stehe keine angemessene Gegenkraft gegenüber: Schon lange gebe es keine große Schar an Lehrkräften, Schulleitungen und Bildungspolitikerinnen und -politiker mehr, die das Humboldtsche Bildungsideal verteidigen. Zwar gebe es immer wieder einzelne Beispiele der Gegenwehr, indem sich Schulen gegen Lobbyeinflüsse wehren, Kultusministerien solche Kooperationen von Schulen und Unternehmen untersagen oder Unternehmen nach zivilgesellschaftlichem Druck besonders einseitige Unterrichtsmaterialien aus dem Verkehr ziehen müssen. Doch sei noch lange keine kohärente Praxis der kritischen Wachsamkeit erreicht. Im Gegenteil: In zahlreichen Fällen fördere die Politik sogar undifferenziert möglichst weitgehende „Kooperationen“ von Schule und Wirtschaft. 

Motive und Reichweite des unternehmerischen Engagements

Insgesamt ist festzustellen, dass alle untersuchten Unternehmen in der einen oder anderen Form an Schulen aktiv sind; zwei Drittel (zwanzig von dreißig) bieten explizit Lehr- und Lernmaterialien an. Damit zielen die Unternehmen nicht nur auf die Produktion und Distribution von Unterrichtsmaterialien, sondern entfalten darüber hinaus weitere Aktivitäten, mit denen die Bildungsanliegen in eine möglichst breite (Schul-)Öffentlichkeit getragen werden sollen.

Schulbezogene Aktivitäten von Privatunternehmen:

  • Praxiskontakte und Expertenbesuche in Schulen
  • Initiierung, Etablierung und Finanzierung von Schulpartnerschaften
  • Sponsoring von Sport-, Bildungs- und Kulturaktivitäten
  • Finanzierung und/oder Ausrichtung von (Fach-)Tagungen und (Bildungs-)Kongressen
  • Angebot von Lehrerfort- und -weiterbildungen
  • Beauftragung zur Entwicklung von Bildungskonzepten und -standards
  • Finanzierung und/oder Entwicklung von Lehr-/Lern-Materialien
  • Auslobung von Schul-, Klassen- und Schülerwettbewerben

Der Autor weist darauf hin, dass die Beweggründe des Engagements nur selten direkt kommuniziert werden. Sie seien oft an der Grenze von Mildtätigkeit, Sponsoring, Werbung und Lobbyismus angesiedelt – und selbstverständlich seien auch nicht alle Aktivitäten (gleichermaßen) kritikwürdig. Ein weiterer Grund für das Engagement der Unternehmen ist die sich aus Projekt- und Unterrichtsaktivitäten ergebende Berichterstattung in den regionalen, manchmal auch überregionalen Medien: Die Schulmarketingaktivitäten in 28 der 30 untersuchten Unternehmen werden unter dem Dach der jeweiligen PR- und Kommunikationsabteilungen der Unternehmen geführt oder von dort flankiert.

Der Autor zieht nach seiner Analyse folgende bildungspolitische Schlussfolgerungen:

  • Unternehmen nutzen Schule als Lobby-Plattform

Die Bedeutung von Theorie-Praxis-Kooperationen an Schulen sei unbestritten. Doch habe sich an Schulen inzwischen ein Lobbyismus von großen Unternehmen ausgebreitet, die Schule als „Werbeplattform“ für die eigenen Interessen nutzt. Ein großes Problem sei dabei, dass Lehr- und Lernmaterialien der Unternehmen und ihnen nahestehender Stiftungen nicht auf ihre Qualität und Unabhängigkeit geprüft werden – weder von Bildungs-, Kultus- oder Schulministerien noch durch Gremien wie die Fachgruppen-, Lehrer- oder Schulkonferenz. Dadurch schwinde der Respekt vor der Autonomie des Schulsystems zunehmend und die ohnehin fließenden Grenzen zwischen Schule und Wirtschaft lösten sich manchmal auch in rechtlich fragwürdiger Weise auf.

  • Notwendigkeit eines staatlichen Regelwerks

Angesichts der intensiven und extensiven unternehmerischen Einflussnahme auf die Schulen, insbesondere durch die Energiewirtschaft und die Finanzindustrie, bedürfe es eines staatlichen Regelwerks, das die „säkulare“ Trennung zwischen Schule und Privatwirtschaft garantiert. Obwohl die Semantik des Begriffs „Bildungspartnerschaft“ eine Begegnung auf Augenhöhe suggeriert, handle es sich in vielen Fällen nicht um eine gleichberechtigte Kooperation von Schule und Unternehmen.

  • Verlust der Reputation von Lehrkräften

Wenn Lehrkräfte ihren Unterricht mit Lehr- und Lernmaterialien gestalten, die von Privatunternehmen produziert, finanziert und distribuiert wurden, habe dies weitreichende Konsequenzen für die öffentliche Wahrnehmung des Lehrerberufs. Mit dieser Art der „Öffnung von Schule“ erfahre die professionsbezogene Ausbildung einen nachhaltigen Reputationsverlust und der Berufsstand der Lehrerinnen und Lehrer werde „entprofessionalisiert“. Das allgemeinbildende Schulwesen werde durch die Lobbyaktivitäten der Unternehmen zu einem Handlungsfeld, in dem die Repräsentantinnen und Repräsentanten der Unternehmen frei von curricularen Vorgaben agieren (können), sodass kein Verhältnis unter Gleichen besteht. Vielmehr werde ein Ungleichgewicht geschaffen, das sich in finanziellen und gegebenenfalls inhaltlichen Abhängigkeiten niederschlägt.

  • Gefährdung des allgemeinbildenden Charakters von Schulen

Mit den gegenwärtigen Lobbypraktiken drohe das öffentliche Bildungswesen seine demokratische Legitimation zu verlieren. Die daraus resultierenden Probleme könnten den allgemeinbildenden Charakter schulischer Bildung gefährden, ungleich verteilte Bildungschancen noch weiter verschärfen und die schulische Abhängigkeit von Unternehmen verstärken. Besonders problematisch seien vor allem Einflussnahmen der Unternehmen im Bereich der Bildungsinhalte. Die Schieflage zwischen (unterfinanzierten) staatlichen Institutionen einerseits und privatwirtschaftlichen Akteuren andererseits gehe zudem zu Lasten von Organisationen und Interessengruppen, die nicht über die nötigen Ressourcen für schulische Lobbyarbeit verfügen, wie zum Beispiel Wohlfahrts- und Umweltverbände, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch Gewerkschaften oder klassische Nichtregierungsorganisationen.

  • Notwendige Regelung der schulischen Zugangskänale von Unternehmen

Aus dieser Perspektive rücke auch der Wettbewerb zwischen den Unternehmen ins Blickfeld: Wenn einer bestimmten privaten Geschäftsbank der Weg in die Klassenzimmer geöffnet wird, müsste – dem Grundsatz der Gleichbehandlung folgend – auch einer anderen Geschäftsbank dieser Weg eröffnet werden. Es sei aber weder praktisch umsetzbar noch sinnvoll, dass zum Beispiel sämtliche Anbieter von Finanzdienstleistungen Schülerinnen und Schüler Unterrichtsmaterielien zur Verfügung stellen. Bei Kooperationen von Unternehmen und Schulen müssten in jedem Fall Regelungen etabliert werden, welches Unternehmen welche Schule in welchem zeitlichen (und gegebenenfalls finanziellen) Umfang adressieren darf.

  • Schule als „Spielball“ unternehmerischer Interessen

Ein weiteres Problem sieht der Autor darin, dass die (untersuchten) Unternehmen nahezu ausschließlich mit branchenaffinen Methoden, Themen und Kompetenzen arbeiten. Derzeit zeige sich eine eindeutige Schwerpunktsetzung in Richtung von Unterrichtsmaterialien aus der Automobil-, Digital-, Energie- und Finanzwirtschaft. Dagegen seien in den untersuchten Unterrichtsmaterialien wichtige lehrplanrelevante Themen und Methoden nicht oder kaum präsent, zum Beispiel die Vermittlung von Fähigkeiten zur Gedichtinterpretation oder von Kenntnissen über die europäische Geschichte. Somit sei nicht einmal sichergestellt, dass die Lehr- und Lernmaterialien der Unternehmen Themen und Kompetenzen behandeln, die in den (Rahmen-)Lehrplänen festgeschrieben sind.

Im Zuge der Digitalisierung von Bildungsangeboten werde der unternehmerische Einfluss auf den schulischen Erfahrungs-, Schutz- und Sozialisationsraum zudem noch weiter anwachsen. Entsprechende Kooperationen zwischen Schulen und Unternehmen könnten angesichts angespannter kommunaler Haushalte dann endgültig dazu führen, dass die Schulen zum Spielball unternehmerischer Interessen werden. Eine große Gefahr sieht der Autor darin, dass viele Lehrkräfte nicht in der Lage sind, die Unterrichtsmaterialien von Unternehmen in ihrer Qualität einzuschätzen, da die dafür notwendigen Kompetenzen nicht oder nur unzureichend im Studium vermittelt werden.

  • Verstoß gegen das Überwältigungsverbot

Dies sei umso problematischer, weil die von privaten Content-Anbietern propagierten Partikularinteressen häufig nicht nur im Widerspruch zu einem auf Aufklärung setzenden Bildungsideal stünden, sondern auch dem 1976 im „Beutelsbacher Konsens“ festgeschriebenen „Überwältigungsverbot“ zuwiderlaufen, das bis heute die Grenze zwischen Aufklärung und Indoktrination markiert. Bildungsanlässe seien nur dann erfolgreich, wenn Überzeugungen generiert, präzisiert und reflektiert werden.

  • Aufklärung als Bildungsauftrag der Schule

Auf dieser Grundlage seien Schulen zur Aufklärung verpflichtet und dürften nicht zu bestimmten Gesinnungen, Weltbildern oder Verhaltensdispositionen anleiten. Da Kinder und Jugendliche im Umgang mit Meinungen vergleichsweise unerfahren sind, müssten die ihnen vorgetragenen Standpunkte behutsam ausgewählt und hinsichtlich ihrer „Stoßrichtung“ austariert werden. Schließlich könnten sich die Kinder und Jugendlichen den unterrichtlich eingebetteten „Werbeveranstaltungen“ nicht entziehen und sie seien auch nicht immer in der Lage, die Einflussnahme zu erkennen, da diese im Rahmen des Unterrichts stattfindet: Unterricht an der Schule sei mit dem Eindruck von Seriosität und Neutralität verbunden und verleihe dadurch auch privatem Bildungs-Content eine starke Glaubwürdigkeit. Deshalb sei es wichtig, die Kinder und Jugendlichen vor externen, nicht qualitätsgeprüften Lehr- und Lernmaterialien ebenso zu schützen wie vor Unternehmensmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, die diese Inhalte vor Ort vermitteln.

  • Systematische Prüfung der Aktivitäten bei außerschulischen Kooperationen

Bei aller Sinnhaftigkeit außerschulischer Kooperationen bedarf es nach Ansicht des Autors vor dem Hintergrund der damit ermöglichten inhaltlichen Einflussnahme einer systematischen Prüfung dieser Aktivitäten. Ähnlich wie es bei Schulbüchern in 13 von 16 Bundesländern der Fall ist, sollten auch Angebote privater Initiativen schul-, kultus- oder bildungsministerielle Prüfungen durchlaufen müssen – und zwar bestenfalls nicht auf Landes-, sondern auf Bundesebene.

  • Auftrag für Schul-, Kultus- und Bildungsministerien

Sinnvoll wäre eine bundesweit agierende Prüfstelle für Unterrichtsmaterialien. Wenn dies in absehbarer Zeit nicht erreicht werden könne, sei zumindest ein länderübergreifender Zusammenschluss der Schul-, Kultus- und Bildungsministerien notwendig, um Vereinbarungen bezüglich der bundesweiten (Un-)Zulässigkeit von Lehr- und Lernmaterialien zu treffen. Dies gelte insbesondere mit Blick auf datenschutzrechtliche Bestimmungen in Deutschland, die von US-amerikanischen Digitalunternehmen – wie zuletzt Apple und Facebook – immer wieder verletzt werden. Eine Vertiefung länderübergreifender Absprachen wäre auch deshalb wichtig, weil sich privatwirtschaftliche Interessenvereinigungen ihre Anstrengungen verstärken, ihre Positionen nicht nur in Lehr- und Lernmaterialien Eingang finden zu lassen, sondern diese auch in den Stundentafeln abzubilden. Dies zeige das Beispiel Nordrhein-Westfalen, wo die Umbenennung des Unterrichtsfachs „Politik/Wirtschaft“ in „Wirtschaft/Politik“ zum Schuljahreswechsel 2019/20 auch in Reaktion auf die Einflussnahme der Arbeitgeberverbände erfolgt sei.

Die Vermengung von staatlicher und privater Sphäre führe nicht nur zu einer weitreichenden Erosion staatlicher Verantwortungsbereiche, sondern erschüttere zugleich die Grundfeste der Demokratie. Die privaten Unternehmen versorgten die Schulen mit selektiven, tendenziösen und manipulativen Unterrichtsmaterialien, um die Vor- und Einstellungen Heranwachsender nachhaltig zu prägen und damit Geld zu verdienen. Wenn das öffentliche Schulwesen auf diese Weise dem Zugriff privatwirtschaftlicher Interessen ausgesetzt werde, gerate der urdemokratische Anspruch auf Aufklärung ins Abseits. Schon jetzt habe die Offenheit der Schulen gegenüber unternehmerischen Einflüssen zu einer deutlichen Verschiebung der Akteurskonstellationen im öffentlichen Bildungssektor geführt, die das Verständnis von Schule als neutraler und obligatorischer Bildungsinstanz gravierend verändert, indem Gewinn- und Gemeinwohlorientierung aufeinanderprallen.

Schlussfolgerung

Wenn die „Bildungsrepublik“ Deutschland nicht weiter Schaden nehmen solle, braucht es nach Ansicht des Autors ein konzertiertes, also bundesweites Zusammenwirken der Schul-, Kultus- und Bildungsministerien, um dem Unternehmens-Lobbyismus an Schulen mittels Unterrichtsmaterialien entgegenzuwirken. Andernfalls liefe Deutschland insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung Gefahr, dass die Institution Schule sich endgültig vom pädagogischen Schonraum zum unternehmerischen Lobbyparkett wandele und seinen aufklärerischen Bildungsauftrag nicht mehr erfülle.