Vorlesestudie 2016
- Handlungsfeld
- Persönlichkeitsentwicklung
Thema
Leseförderung von Kindern
Herausgeberschaft
Stiftung Lesen, Deutsche Bahn Stiftung
Erscheinungsort
Mainz
Erscheinungsjahr
2016
Stiftungsengagement
Stiftung Lesen, Deutsche Bahn Stiftung
Literaturangabe
Stiftung Lesen/Stiftung Deutsche Bahn/DIE ZEIT (Hrsg.): Deutsche Vorlesestudie 2016. Repräsentative Befragung von Kindern im Alter von 5 bis 10 Jahren und ihren Müttern. Mainz 2016.
Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise
Seit 2007 untersuchen die jährlichen Vorlesestudien der Stiftung Lesen, der Wochenzeitung DIE ZEIT und der Deutsche Bahn Stiftung empirisch, aufeinander aufbauend und aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Situation des Vorlesens in Deutschland und seine Bedeutung für die Entwicklung von Kindern. Im Zentrum steht die Frage, was Vorlesen für die Kinder bedeutet und was sie sich wünschen.
Für die Vorlesestudie 2016 wurde im Juni/Juli 2016 eine quantitative Befragung in Deutschland durchgeführt. Befragt wurden 521 fünf- bis zehnjährige Kinder und ihre Mütter. Die Auswahl der repräsentativen Stichprobe basierte auf bestimmten soziodemografischen Merkmalen, die Methode war eine standardisierte Face-to-face Befragung (persönliche Interviews in den Haushalten/CAPI), durchgeführt von Iconkids & Youth, München.
Wichtige Ergebnisse
1. Ergebnisse der Befragung
Wie finden Kinder das Vorlesen?
Die Antworten der Kinder zeigen, dass sie das Vorlesen lieben: 91 Prozent der Kinder sagen, dass ihnen das Vorlesen (fast) immer gut gefällt oder gefallen hat. Die Begeisterung für das Vorlesen ist unabhängig davon, ob im Haushalt überwiegend Deutsch oder eine andere Sprache gesprochen wird.
Kinder lieben das Vorlesen besonders dann, wenn sie es regelmäßig erleben: 94 Prozent der Kinder, denen täglich vorgelesen wird, und 92 Prozent der Kinder, denen mindestens einmal in der Woche vorgelesen wird, sagen, dass ihnen das Vorlesen (fast) immer gefällt – dagegen nur 72 Prozent der Kinder, denen seltener als einmal pro Woche vorgelesen wird.
Vorlesen macht offenbar auch Lust auf mehr: 30 Prozent der Kinder, denen von den Eltern vorgelesen wird, wünschen sich, dass ihnen noch öfter vorgelesen wird, 25 Prozent fänden es gut, wenn sich ihre Eltern mehr Zeit zum Vorlesen nehmen würden.
Ein wichtiges Ergebnis lautet, dass Vorlesen fast allen Kindern im Alter von fünf bis zehn Jahren gefällt und sie davon nicht genug bekommen können – unabhängig von Alter, Geschlecht oder der im Haushalt gesprochenen Sprache. Entscheidend ist, dass regelmäßig vorgelesen wird.
Was macht Vorlesen für Kinder attraktiv?
Das Vorlesen wird für die Kinder attraktiv durch die Atmosphäre (gemütlich, ruhig und entspannend), die Geschichten/Inhalte und die Nähe zu den Eltern. Die Kinder genießen es, dass sich die Eltern Zeit nehmen und sie Mama oder Papa für sich haben.
Für viele Kinder hat das Vorlesen selbst einen hohen Stellenwert. 45 Prozent stimmten der Aussage zu: „Es ist einfach schön, wenn jemand vorliest.“
Viele Kinder wünschen sich immer wieder neue Geschichten (40 Prozent), aber auch mehr spannende, lustige oder gruselige Geschichten (34 Prozent). Spannung, Spaß und Identifikationsfiguren machen Geschichten für Kinder attraktiv: 56 Prozent der Kinder sagen, eine Geschichte muss spannend sein, für 49 Prozent sollte sie lustig sein und 47 Prozent meinen, sie muss eine tolle Hauptfigur haben.
Jüngere wollen beim Vorlesen eher lachen, Ältere wollen eher Spannung und interessante Charaktere erleben: 66 Prozent der 5- bis 6-Jährigen wünschen sich eine lustige Geschichte, 61 Prozent der 9- bis 10-jährigen Kinder wollen eine spannende Geschichte hören, für 55 Prozent sollte eine tolle Hauptfigur vorhanden sein.
Warum lesen Eltern ihrem Kind vor?
Wichtige Motive sind, Zeit mit den Kindern zu verbringen, gemeinsam spannende Geschichten zu erleben, Entspannung für sich selbst und das Kind zu erreichen. Eltern lesen aber auch vor, weil es dem Kind Spaß macht und sie den Kindern dadurch nahe sein können.
Viele Eltern erkennen das Förderpotenzial des Vorlesens: Mütter nennen als wesentliche Gründe für das Vorlesen, dass es gut für die Sprache ist, das Kind dadurch beim Lesenlernen unterstützt wird und dem Kind gezeigt werden kann, wie toll Lesen ist. Die Förderpotenziale des Lesens erkennen Eltern unabhängig von ihrer Herkunft bzw. ob sie in Deutschland geboren sind oder nicht.
Woran liegt es, wenn Kindern das Vorlesen nicht gefällt?
Die beiden wichtigsten Gründe sind, dass Kinder eigentlich lieber etwas anderes gemacht hätten, zum Beispiel Spielen, Basteln, Rausgehen, Essen etc., oder dass sie müde, krank, schlecht gelaunt oder traurig waren.
Deutlich wurde, dass Kinder beim Vorlesen vor allem die Nähe zu ihren Eltern und die Atmosphäre schätzen.
Welche Rolle spielen Situationen und Personen?
Kindern können den Spaß am Vorlesen verlieren, wenn ihnen Geschichten nicht gefallen, wenn sie Geschichten „langweilig“ oder „blöd“ finden, aber auch dann, wenn sie die Geschichten schon kannten oder die Geschichten ihnen Angst gemacht haben.
Beim Vorlesen sind die Kinder meist die treibende Kraft: Von den Müttern sagen 40 Prozent, dass sich das Kind das Vorlesen gewünscht hat, 25 Prozent geben an, dass der Vorschlag von ihnen selbst oder ihrem Partner kam.
Ganz wesentlich sind auch Spaß und Motivation der Eltern: 58 Prozent der Kinder meinen, dass das Vorlesen auch den Eltern Spaß macht oder gemacht hat, nur 3 Prozent sind nicht dieser Auffassung.
Vorlesen ist für manche Eltern auch mühsam: 5 Prozent der Mütter bejahen diese Aussage voll und ganz, 23 Prozent stimmen eher zu. 4 Prozent sind sehr oft müde und schlafen beim Vorlesen ein, 19 Prozent passiert das manchmal.
Viele Eltern lesen den Kindern aber auch dann vor, wenn sie gerade keine Lust dazu haben. Als wichtige Gründe nennen die Mütter, dass sich das Kind das Vorlesen so sehr wünscht oder weil sie Rituale einhalten möchten.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist somit, dass sich sehr viele Kinder wünschen, dass ihnen vorgelesen wird und dass sie auch oft die Initiative dazu ergreifen. Doch sollten die Eltern auch mit Spaß vorlesen und die richtige Geschichte wählen.
Mütter lesen den Kindern mehr als doppelt so häufig vor wie die Väter. Besonders gern vorlesen lassen sich Kinder von Mama, Papa, Oma und Opa. Sie schätzen aber auch das Vorlesen außerhalb der Familie – im Kindergarten und in der Schule, was zuhause auch Gesprächsthema ist, selbst wenn in der Familie wenig vorgelesen wird. Es wird deutlich, dass das Vorlesen außerhalb der Familie das Vorlesen in der Familie nicht ersetzen kann, weil Nähe und Vertrautheit mit den Eltern von großer Bedeutung sind. Doch ist das Vorlesen im außerfamiliären Bereich sehr wertvoll, weil es das familiäre Vorlesen sinnvoll ergänzen kann.
2. Forderungen
Die Vorlesestudien der vergangenen Jahren haben gezeigt, dass Vorlesen ein zentraler Baustein für die individuelle Entwicklung und die Bildungschancen von Kindern ist. Kindern, denen vorgelesen wird, zeigen zum Beispiel später in der Schule bessere Leistungen, sie lesen lieber und länger.
Laut der Studie 2016 haben fast alle Kinder das Bedürfnis, dass ihnen vorgelesen wird. Die Autoren der Studie betonen, dass alle Eltern auch die Möglichkeit haben, dieses Bedürfnis zu erfüllen, unabhängig von Status und Herkunft, da es in erster Linie Zeit erfordere. Vorlesen sollte allen Kindern offenstehen und kein Privileg der Gebildeten sein.
Da Kinder ein Recht auf Vorlesen hätten und Kinder auch in bildungsfernen Haushalten das Vorlesen lieben, sollte Vorlesen für alle Familien zum Alltag werden.
Vorlesen mache letztlich nicht nur den Kindern Spaß, sondern auch vielen Eltern, sodass diese ihren Kindern den Wunsch nach einer guten Vorlesegeschichte jeden Tag erfüllen könnten.
Schließlich profitierten beide Seiten vom Vorlesen – Kinder und Eltern. Für die Kinder sei es das Fundament für Bildung und den Zugang zur Welt. Die Fähigkeit des Lesens und Schreibens sei eng mit den gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten verbunden. Aber auch die Eltern hätten Vorteile vom Vorlesen. Viele würden sich darauf freuen, die gemeinsame Zeit mit den Kindern genießen und aus dem Vorlesen auch viel für sich selbst mitnehmen. Die Eltern könnten zum Beispiel die eigenen positiven Erfahrungen in die Situation einbringen, die sie früher als Kinder erlebten, als ihnen ihre Eltern vorgelesen haben. Dadurch könnte ein positiver Verstärkungseffekt entstehen: Kinder, denen die Eltern gern und oft vorgelesen haben, erinnern sich selbst später gut und gern an diese Erfahrung. Dadurch bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie dann auch ihren eigenen Kindern wieder vorlesen.
Ein Drittel der Eltern lese ihren Kindern jedoch zu selten vor (nicht mehrmals in der Woche). Viele dieser Kinder empfänden hier ein regelrechtes Defizit und hätten ein starkes Bedürfnis danach, dass ihnen (öfter) vorgelesen wird. Vorlesen sei eine wichtige Grunderfahrung der Kindheit, auf das alle Kinder einen Anspruch hätten. Gerade Kinder mit Vorlese-Defizit brächten das Thema häufig in die Familie ein, wenn ihnen in Kitas, Schulen, Bibliotheken usw. vorgelesen wird.
Als Ziel formulieren die Autoren der Studie, dass der Anteil der Eltern, die zu selten vorlesen, bis 2020 auf 20 Prozent und bis 2030 auf 10 Prozent gesenkt werden sollte. Kampagnen, Netzwerke und Programme könnten dazu beitragen, indem den Kindern im außerfamiliären Bereich möglichst viele Erfahrungen des Vorlesens ermöglicht werden. Diese könnten den Kindern dann wiederum Anlass geben, ihren Wunsch nach Vorlesen an die Eltern zu richten.