Studie

Vielfalt verstehen. Zusammenhalt stärken

Thema

Entwicklungen und Engagement in der Zivilgesellschaft

Herausgeberschaft

Stifterverband/Bertelsmann Stiftung

Autoren/Autorinnen

Jana Priemer/Holger Krimmer/Anaël Labigne

Erscheinungsort

Essen

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Stifterverband, Bertelsmann Stiftung, Fritz Thyssen Stiftung, Deutsches Stiftungszentrum, Robert Bosch Stiftung, Stiftung Mercator, Körber Stiftung

Literaturangabe

Jana Priemer/Holger Krimmer/Anaël Labigne: Vielfalt verstehen. Zusammenhalt stärken. ZiviZ-Survey 2017. Hrsg. v. Stifterverband/Bertelsmann Stiftung. Essen 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Um zivilgesellschaftliche Entwicklungen beschreiben und analysieren zu können, gründeten der Stifterverband, die Bertelsmann Stiftung und die Fritz Thyssen Stiftung im Jahr 2008 die Initiative ZiviZ, die nun eine Tochtergesellschaft des Stifterverbands ist. Die daraus hervorgegangene Geschäftsstelle ZiviZ im Stifterverband hat im Jahr 2017 zum zweiten Mal nach 2012 den ZiviZ-Survey durchgeführt. Der ZiviZ-Survey ist die einzige repräsentative Befragung zivilgesellschaftlicher Organisationen in Deutschland.

Am ZiviZ-Survey 2017 beteiligten sich mehr als 6.300 gemeinnützige Organisationen, die per Fragebogen zwischen Ende 2016 und Anfang 2017 befragt wurden. Erstmals wurden auch inhaltliche Schwerpunkte aufgenommen, indem Fragen zum Engagement im Bildungskontext, zu Fördervereinen sowie zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und von Geflüchteten gestellt wurden.

Der ZiviZ-Survey 2017 wurde gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Deutsche Stiftungszentrum, die Robert Bosch Stiftung und die Stiftung Mercator. Zu den Partnern, Fördernden und Wegbegleitenden von ZiviZ gehören unter anderem Wirtschaftsunternehmen, Bundesministerien, zivilgesellschaftliche Verbände und Stiftungen (Bertelsmann Stiftung, Fritz Thyssen Stiftung, Körber Stiftung).

Wichtige Ergebnisse

Die Befragungsergebnisse zeigen eine Verschiebung der Orte und Arenen des Engagements, über die Bürgerinnen und Bürger Politik und Gesellschaft mitgestalten. Seit den 1990er Jahren sind die Mitgliedschaften in Parteien und Gewerkschaften rückläufig, und auch die Mitgliedsorganisationen der Kirchen verlieren an Reichweite. Gleichzeitig hat sich die Zivilgesellschaft auf verschiedene Art und Weise entwickelt. Beispiele sind z.B. die Proteste und Bewegungen im Rahmen des Bahnhofsprojektes Stuttgart 21 oder in der Folge der internationalen Finanzmarktkrise, spontane Solidarisierungswellen wie bei Hochwasserereignissen oder die Willkommenskultur in der sogenannten Flüchtlingskrise.

Der Rückgang von Mitgliedschaften in Parteien und anderen Großorganisationen ist nach Ansicht der Autorinnen und Autoren somit nicht mit einem Rückzug ins Private gleichzusetzen. Vielmehr habe das freiwillige Engagement der Zivilgesellschaft im gleichen Zeitraum beträchtlichen Aufschwung erfahren.

Deutlich werde auch ein Strukturwandel der Handlungsfelder und Organisationsstrukturen, über die sich gesellschaftliche Loyalitäten und lokale Vergemeinschaftungsprozesse entwickeln. Der Zuwachs an zivilgesellschaftlichem Engagement sei zwar durchaus positiv, doch sei dieser Prozess nicht nur als Fortschritt und positive Entwicklung zu bewerten. Zum einen könne in einer Parteiendemokratie eine schwindende gesellschaftliche Verankerung von Parteien nicht durch das Wachstum zivilgesellschaftlicher Strukturen kompensiert werden. Zum anderen hätten sich in den vergangenen Jahren deutlich Phänomene abgezeichnet, die einer rein positiven Konnotation von zivilgesellschaftlichem Handeln entgegenstehen: So sei die sogenannte Flüchtlingskrise auch mit einer tief greifenden Skepsis und einem Vertrauensverlust in demokratische Institutionen und Eliten in weiten Teilen der Gesellschaft verbunden gewesen. Die von vielen Menschen empfundene Resonanzlosigkeit dieser repräsentativen Strukturen auf Sorgen und Ängste der Bevölkerung habe sich auch als Mobilisierungsgrundlage für fremdenfeindliche und rechtspopulistische Ideologien erwiesen. Insgesamt zeige sich, dass als problematisch wahrgenommene gesellschaftliche Ereignisse in der jüngeren Vergangenheit offensichtlich eher zu einer Mobilisierung im öffentlichen Raum führten als zu einem Rückzug ins Private. Für diese tief greifenden Veränderungen und Entwicklungen in der Selbstorganisation von Bürgerinnen und Bürgern könnten keine einfachen Bewertungen und Antworten gefunden werden. Vielmehr sei es eine wichtige Aufgabe des öffentlichen Diskurses, diese zu reflektieren. Die vorliegende Studie ZiviZ-Survey 2017 könne einen Beitrag dazu leisten, diesen Diskurs anzuregen und zu versachlichen.

Der ZiviZ-Survey 2017 belegt ein Wachstum der organisierten Zivilgesellschaft. Unter „organisierter Zivilgesellschaft“ werden in der Studie gemeinnützige Organisationen verstanden, also Vereine und Stiftungen, Genossenschaften und Kapitalgesellschaften, in denen sich der größte Teil bürgerschaftlichen Engagements organisiert.

Die wichtigsten Befragungsergebnisse im Überblick

Verhältnis Zivilgesellschaft – Staat

Ein Ergebnis ist, dass zivilgesellschaftliche Organisationen ein klares Verständnis von ihrer eigenen Rolle haben, insbesondere in Abgrenzung zum Staat. Auf die Frage danach, ob ihre Arbeit eher vom Staat geleistet oder zumindest von ihm finanziert werden sollte, oder ob es richtig ist, dass sie zivilgesellschaftlich geleistet und finanziert wird, votiert der überwiegende Teil für die zweite Option. Fast zwei Drittel aller Organisationen (64 Prozent) geben an, dass ihre Arbeit nicht nur durch sie selbst geleistet, sondern auch durch sie selbst finanziert werden sollte. Ein knappes Drittel (31 Prozent) aller Organisationen meint, ihre Arbeit solle zumindest durch den Staat finanziert werden. Nur 6 Prozent meinen, ihre eigene Arbeit solle eigentlich von staatlichen Stellen geleistet werden. Dieses deutlich zivilgesellschaftliche Ethos zeige sich auch in anderen Ergebnissen der Befragung, so die Autorinnen und Autoren.

Entwicklung der Zivilgesellschaft

1. Die Zivilgesellschaft wächst.

  • Es gibt heute mehr gemeinnützige Organisationen als im Jahr 2012. Es wurden neue Vereine, Stiftungen und andere Organisationen gegründet.
  • Die Zahl der eingetragenen Vereine ist von 2012 bis 2016 um knapp 23.600 auf rund 604.000 gestiegen. Damit ist der Verein nach wie vor die dominante Rechtsform (95 Prozent der Organisationen).
  • Insgesamt werden die Organisationen größer bzw. die Mitgliederzahlen steigen an. Nur ein kleiner Teil der Vereine gibt an, dass die Zahlen der Mitglieder und der Engagierten rückläufig seien.
  • Mit 22 Prozent bildet Sport das größte Handlungsfeld der befragten Organisationen. In den etwa 133.000 Sportvereinen sind so viele Mitglieder und Engagierte eingebunden wie in keinem anderen Engagementfeld in Deutschland. Die Anzahl der großen Vereine ist hier überproportional groß.
  • Bildung und Erziehung ist mit 18 Prozent das zweitgrößte Handlungsfeld. In Bezug auf die Mitgliederzahlen sind die Sportvereine zwar wesentlich größer, doch haben immerhin 24 Prozent der Organisationen aus dem Bereich Bildung und Erziehung mehr als 100 Mitglieder. Auch in diesem Handlungsfeld dominieren die Vereine. Doch sind ebenfalls viele Stiftungen und gemeinnützige GmbHs aktiv, die in diesem Handlungsfeld verstärkt tätig werden: Bei den Stiftungen dominiert das Handlungsfeld Bildung mit einem Anteil von 24 Prozent, bei den gemeinnützigen GmbHs liegt der Anteil bei 32 Prozent. Bildung und Erziehung ist ein junges Handlungsfeld: Nur 4 Prozent der Organisationen wurden vor 1951 gegründet. Ein deutliches Wachstum zeigt sich erst ab Mitte der Siebzigerjahre. Die meisten Organisationen wurden Mitte der Neunzigerjahre gegründet. Eine große Rolle im Handlungsfeld Bildung spielen Fördervereine.

2. Die Zivilgesellschaft wird politischer.

  • Während ältere Organisationen sich größtenteils als Gemeinschaft Gleichgesinnter wahrnehmen, steigt in den jüngeren Organisationen der Anteil jener, die sich auch als Akteure der politischen Willensbildung oder als Interessenvertreter verorten.
  • Deutlich wird ein grundlegendes Muster: Je später die Organisationen gegründet wurden, umso geringer ist der Anteil gemeinschaftsorientierter Organisationen, die eher das Wirken nach innen als nach außen in den Vordergrund stellen.
  • Dafür steigt im gleichen Zeitverlauf, insbesondere seit den Siebzigerjahren, der Anteil von Organisationen, die sich als fördernde Themenanwälte, Allrounder oder reine Förderorganisationen verstehen. Alle drei Organisationstypen haben gemeinsam, dass sie zwar auch das Gemeinschaftliche nach innen als wichtigen Teil ihres Selbstverständnisses auffassen, aber zugleich als Themenanwälte, Förderende und Dienstleistende einen politischen, fördernden oder ökonomischen Wirkungsbezug nach außen haben.
  • Seit den 1990er Jahren wuchsen am stärksten die Anteile jener Organisationen zu, die eine gemeinschaftliche oder eine Dienstleistungskomponente mit einer politischen Sprechfunktion als Akteur der demokratischen Willensbildung oder der Interessenvermittlung verbinden.

3. Die Fördervereine wachsen am stärksten.

  • Fördervereine sind eines der am stärksten wachsenden Segmente unter gemeinnützigen Organisationen. Fördervereine gibt es heute in allen Handlungsfeldern. Jeder fünfte Verein (22 Prozent) ist ein Förderverein, was hochgerechnet mehr als 130.000 Fördervereine in Deutschland entspricht.
  • Mehr als ein Drittel der Fördervereine (38 Prozent) wurde erst 2006 oder später gegründet. In den neuen Bundesländern boomen Fördervereine nicht ganz so stark und anhaltend wie in den alten.
  • Besonders häufig treten Fördervereine in den Handlungsfeldern Bildung/Erziehung und Kultur/Medien auf. 41 Prozent der Fördervereine unterstützen eine Bildungseinrichtung, meist eine staatliche. Gefördert werden Kindergärten und Schulen sowie Universitäten oder einzelne Universitätsinstitute, aber auch Musikschulen, Planetarien und viele andere kommunale Bildungseinrichtungen. 14 Prozent der Fördervereine unterstützen zudem kulturelle Einrichtungen wie Museen, Opern- oder Konzerthäuser.

4. Freiwilliges bürgerschaftliches Engagement ist eine tragende Säule gemeinnütziger Organisationen.

  • Nach wie vor arbeitet der überwiegende Teil der Organisationen (72 Prozent) ohne bezahlte Beschäftigte, also auf rein ehrenamtlicher Basis, auch wenn der Anteil seit 2012 leicht gesunken ist.
  • Über Rückgänge bei den freiwillig Engagierten klagen insbesondere Sport- und Freizeitvereine. Damit setzt sich ein Trend fort, der sich bereits 2012 abgezeichnet hat.
  • Ein Zuwachs an neuen Mitgliedern und freiwillig Engagierten zeigt sich vor allem bei Organisationen, die neue Handlungsfelder wie Bürger- und Verbraucherinteressen oder Internationale Solidarität bearbeiten.
  • Etwa ein Viertel der Vereine traditionsreicher Handlungsfelder wie Sport, Freizeit und Geselligkeit sowie Kultur und Medien hingegen hat Mitglieder verloren. Von einem Rückgang bei den freiwillig Engagierten berichtet jeweils etwa ein Fünftel der Organisationen dieser Bereiche.

5. Zivilgesellschaft verbindet.

  • Zivilgesellschaftliche Organisationen leisten wichtige Beiträge zur sozialen Integration von Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund. Zwar ist es eher die Ausnahme, dass sich Vereine und andere gemeinnützige Organisationen gezielt darum bemühen, Migranten und Migrantinnen als Mitglieder zu gewinnen. Einige Organisationsbereiche bemühen sich jedoch verstärkt um diese gesellschaftliche Gruppe.
  • Jeder zehnte Sportverein versucht gezielt, Mitglieder mit Migrationshintergrund zu gewinnen, zu mobilisieren und sie besser zu integrieren. Dafür werden verschiedene Maßnahmen ergriffen, z.B. werden Integrationsbeauftragte benannt, interkulturelle Trainings angeboten und das Angebots- und Leistungsspektrum stärker auf Migrantinnen und Migranten ausgerichtet.
  • Etwa 11 Prozent der Organisationen des Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes bemühen sich gezielt um Mitglieder mit Migrationshintergrund, bei Organisationen im Bereich Kirchen/religiöse Vereinigungen sind es 7 Prozent. In allen anderen Handlungsfeldern liegt der Anteil im unteren einstelligen Bereich.
  • Zum Zeitpunkt der Befragung (Ende 2016/Anfang 2017) haben sich 14 Prozent der Organisationen direkt in der Flüchtlingshilfe engagiert, etwa durch Hilfe- und Unterstützungsleistungen für Geflüchtete. Das Spektrum der Unterstützungsleistungen ist hier sehr groß. Es reicht von der Ausgabe von Kleiderspenden über die Betreuung in Unterkünften bis hin zur Begleitung bei Behördengängen. Viele Organisationen (24 Prozent) haben ihre normalen Angebote, wie etwa Sport-, Freizeit- und Kulturangebote, gezielt auch an Flüchtlinge gerichtet und ihnen somit Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ermöglicht.
  • Zudem wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Migrantenorganisationen gegründet.

6. Die Öffnungsprozesse sind noch am Anfang.

  • Hinsichtlich der Öffnung der Organisationen für Migrantinnen und Migranten besteht jedoch noch deutliches Potenzial. Weniger als zehn Prozent der Organisationen gelingt es, mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu gewinnen.
  • Hinsichtlich der kulturellen Herkunft (Muttersprache, Religion und Nationalität) zeigt sich, dass der überwiegende Teil der Organisationen bei den Mitgliedern und Engagierten eher homogen ist: 72 Prozent der Vereine gaben an, dass ihre Mitglieder eine ähnliche kulturelle Herkunft haben, bei den freiwillig Engagierten liegt der Wert mit 79 Prozent noch etwas höher.
  • Hinsichtlich der kulturellen Zusammensetzung der Mitglieder spielt es kaum eine Rolle, ob es sich um große oder um kleine Vereine handelt. Auf der Ebene der Engagierten hingegen schon: Kleine Vereine sagen häufiger aus, dass ihre freiwillig Engagierten kulturell durchmischt sind.

Es sollte unterschieden werden, auf welche Weise Menschen mit Migrationshintergrund Eingang in die Zivilgesellschaft finden: Die bloße Mitgliedschaft bedingt noch kein aktives Mitwirken. Gleichzeitig scheint die Mitgliedschaft ein wichtiger erster Schritt hin zu engagierter Beteiligung zu sein.