Studie mit Handlungsempfehlungen

Vielfalt im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte gute Leistung fördern können

Thema

Rolle von Lehrkräften bei ethnischen Bildungsungleichheiten

Herausgeberschaft

Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)/Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich)

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Stiftung Mercator, VolkswagenStiftung, Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Vodafone Stiftung Deutschland)

Literaturangabe

Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)/Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich) (Hrsg.): Vielfalt im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte gute Leistung fördern können. Berlin 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass die deutsche Gesellschaft in kultureller und ethnischer Hinsicht immer vielfältiger wird. Um die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft zu sichern, müssten Zugewanderte und ihre Kinder die gleichen Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe haben wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Als zentrale Voraussetzung wird dafür vor allem eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildung gesehen. Allerdings zeigt sich, dass Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien im deutschen Bildungssystem weniger erfolgreich sind als jene ohne Migrationshintergrund.

In der Forschung werden geringere Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund (ethnische Bildungsungleichheiten) auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt:

  • Lerngelegenheiten in der Familie (Bildungshintergrund der Eltern, deutsche Sprachkenntnisse der Kinder und ihrer Eltern)
  • Konzentration von Migrantinnen und Migranten in bestimmten Wohngebieten und Schulen und eine daraus resultierende leistungsbezogene und soziale Homogenität in den Schulklassen
  • Starke Stratifizierung des deutschen Schulsystems, das die Schülerinnen und Schüler schon früh nach ihren Leistungen trennt und leistungshomogenen Schulformen zuweist.

Um diese Unterschiede abzubauen und mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen, bedarf es nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur Veränderungen im Bildungssystem und in den Herkunftsfamilien, sondern auch in den Einstellungen und im Verhalten der Lehrkräfte. Die Lehrkräfte spielten eine wichtige Rolle für die Bildungserfahrungen ihrer Schülerinnen und Schüler. Auch wenn bisherige Studien nicht eindeutig belegen könnten, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Rahmen der Leistungsbewertung diskriminiert werden (z.B. bei Noten und Übergangsempfehlungen), könnte eine Diskriminierung auch unbewusst erfolgen, etwa durch Stereotype und Einstellungen von Lehrkräften, die subtile Formen der Diskriminierung verursachen können.

Das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung und der Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration haben zu dieser Frage das gemeinsame Forschungsprojekt „Effekte von Einstellungen, Erwartungen und Handlungsweisen von Lehrkräften auf den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund“ durchgeführt, das von der Stiftung Mercator gefördert wurde. Im Mittelpunkt stand die Frage, inwiefern Leistungserwartungen von Lehrkräften den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund beeinflussen können und auf welche Weise negativen Effekten entgegengesteuert werden kann. Durchgeführt wurden drei Teilprojekte mit folgenden Fragen und Methoden:

  • Welche Einstellungen haben Lehrkräfte zu Aspekten von kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt? Hierzu wurden Daten aus dem Forschungsprojekt „Deutschland postmigrantisch“ ausgewertet, in dem 8.270 Personen bundesweit befragt wurden, darunter 540 Pädagoginnen und Pädagogen.
  • Welche Leistungserwartungen haben Lehrkräfte und wie beeinflussen diese ihr Verhalten und möglicherweise auch die ethnischen Bildungsungleichheiten? Dafür wurden Daten des Forschungsprojekts „Kompetenzerwerb und Lernvoraussetzungen“ (KuL) analysiert, bei dem 1.065 Kinder und ihre Lehrkräfte über das erste Schuljahr begleitet wurden. Eingesetzt wurden hier Leistungstests, Befragungen und Unterrichtsbeobachtungen.

Wie können mögliche indirekte Auswirkungen stereotyper Leistungserwartungen auf den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund vermieden oder abgeschwächt werden, und wie können Lehrkräfte im Unterricht dazu beitragen, den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu verbessern? Dafür wurden im Projekt „Wider die Stereotypisierung: Bessere Schulleistung durch Selbstbestätigung“ bei 820 Jugendlichen aus siebten Klassen überprüft, wie eine Intervention (Aktivierung eines positiven Selbstbilds) wirkt bzw. wie dadurch Leistungen gefördert werden können.

Wichtige Ergebnisse

Ein wesentliches Ergebnis ist, dass Lehrerinnen und Lehrer Vielfalt im Klassenzimmer unterschiedlich wahrnehmen. Dies könne sich darauf auswirken, wie sie Kinder mit Migrationshintergrund unterrichten.

1. Einstellungen von Lehrkräften zu Aspekten von Vielfalt (Deutschsein, Religionspolitik und Muslime)

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Lehrkräfte im Durchschnitt tendenziell eine liberalere Haltung bei den Aspekten von Vielfalt (Deutschsein, Religionspolitik) haben als die übrige Bevölkerung und dass sie negativen Pauschalisierungen von Muslimen seltener zustimmen. Dennoch äußerten einige von ihnen negative Urteile: Von den Lehrkräften, die zum Zeitpunkt der Befragung berufstätig waren, waren 15 Prozent der Ansicht, Muslime seien aggressiver als die Mehrheitsgesellschaft („wir“). Nur 61 Prozent aller befragten Lehrkräfte meinten, dass Muslime genauso bildungsorientiert sind wie Nichtmuslime, obwohl hohe Bildungsaspirationen – z.B. in türkeistämmigen Familien – wissenschaftlich belegt sind. Zudem schätzten viele Lehrkräfte ihr Wissen über Muslime als gering ein.

2. Lehrkräfteerwartungen und der Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund

Nach den Ergebnissen der Studie erwarteten die Lehrkräfte bei türkeistämmigen Kindern im Durchschnitt etwas geringere Leistungen als bei Kindern ohne Migrationshintergrund, selbst wenn sie über die gleichen Fähigkeiten verfügen. Zudem wurden Hinweise auf eine selbsterfüllende Prophezeiung gefunden: Wenn Lehrkräfte zu Beginn des ersten Schuljahrs die Leistungen der Kinder überschätzten, lernten diese im Verlauf des Schuljahrs tatsächlich mehr dazu – und umgekehrt. Eine mögliche Erklärung für diesen Effekt sei, dass Lehrkräfte türkeistämmige Kinder im Unterricht etwas seltener aufriefen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, und sich auch weniger lange mit ihnen beschäftigten. Insgesamt schätzten die Lehrkräfte die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler jedoch recht zutreffend ein, und die Effekte verzerrter Erwartungen auf die Kompetenzentwicklung erweisen sich als klein.

3. Wider die Stereotypisierung: Bessere Schulleistung durch Selbstbestätigung?

Als weiterer Grund für Leistungsunterschiede in Bezug auf ethnische Bildungsungleichheiten wird angeführt, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund auch selbst negative Stereotype verinnerlichen. Deswegen würden sie sich seltener gute Leistungen zutrauen, eher gestresst sein und schneller aufgeben. Dies könne dazu führen, dass sie auch tatsächlich schlechtere Leistungen erbringen. Mit sog. Selbstbestätigungsinterventionen könne dem jedoch entgegengewirkt werden. Die Ergebnisse zeigen: Wenn türkei- und arabischstämmige Schülerinnen und Schüler sich mit Themen auseinandersetzen, die für sie selbst wichtig sind, schneiden sie unmittelbar danach in einem Mathematiktest besser ab als Mitschülerinnen und Mitschüler, die das nicht getan haben. Diese Wirkung sei selbst acht Wochen später noch festzustellen. Lehrkräfte könnten somit solche Selbstbestätigungsinterventionen gezielt einsetzen, um die Wirkung von verinnerlichten Stereotype auf die Schulleistung der Schülerinnen und Schüler abzuschwächen.

Um Benachteiligungen durch negative Stereotype und Erwartungen zu vermeiden, sei es allerdings zentral, dass Lehrkräfte ihre eigenen Erwartungen reflektieren. Zudem sei es nicht nur Aufgabe einzelner Lehrkräfte, Benachteiligungen im Klassenzimmer abzubauen. Zu einem konstruktiven Umgang mit Vielfalt, der allen Schülerinnen und Schülern gute Entwicklungschancen ermöglicht, müssten alle Akteure im Bildungssystem beitragen. Dies schließe neben den Schulleitungen die Unterstützungssysteme, wie Institutionen der Lehrerbildung, aber auch die Schulbuchverlage ein.

Fazit: Innovative Ansätze für das Handeln von Lehrkräften

1. Lehrkräfte müssen für Erwartungseffekte sensibilisiert werden:

  • Bei der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften sollten auch interkulturelle Kompetenzen gefördert werden.
  • Es sollten mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund eingestellt werden.
  • Stereotype in Schulbüchern sollten vermieden werden.
  • Eltern müssen für die Wirkung stereotyper Erwartungen sensibilisiert werden.

2. Es sollten Interventionen zum Abbau von „stereotype threat“ eingebaut und Wendepunkte in Bildungsverläufen angestoßen werden. Dafür brauche es Umsetzungstreue und Subtilität, kritisches Feedback und ein ganzheitliches Unterrichtskonzept.

Ausblick

Es müsse an vielen Stellschrauben angesetzt werden, um allen Schülerinnen und Schülern – unabhängig von Herkunft und Migrationshintergrund – gleiche und gute Bildungschancen zu eröffnen. Dazu gehörten die Lerngelegenheiten in der Familie, das Bildungssystem und die Unterrichtsgestaltung. Die einzelne Lehrperson spiele vor allem bei der Gestaltung eines fachlich guten Unterrichts eine zentrale Rolle. Lehrkräfte würden – oft unbewusst – durch ihre Erwartungen ihr eigenes Handeln im Unterricht beeinflussen, und damit auch die Lerngelegenheiten und die Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler. Gleichzeitig hätten Lehrkräfte die Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, die sich durch Stereotype in ihrem Selbstwert bedroht fühlen. Die Lehrkräfte könnten eine Selbstbestätigungsstrategie anwenden, die im deutschen Schulkontext erprobt wurde und positive Effekte zeigte.

Notwendig sei in jedem Fall, Lehrkräfte in der Aus- und Weiterbildung für Vielfalt zu sensibilisieren und entsprechende Kompetenzen zu vermitteln bzw. zu vertiefen. Denn nur auf diesem Weg ließen sich negative Erwartungseffekte und die negativen Folgen einer gefühlten Bedrohung durch Stereotype vermeiden. Ein konstruktiver Umgang mit Vielfalt erfordere, dass Lehrkräfte, Eltern, Schulen, die Bildungsverwaltung und -politik, Schulbuchverlage und nicht zuletzt die Wissenschaft zusammenarbeiten. Veränderung könne nur dann gelingen, wenn die verschiedenen förderlichen Faktoren für Bildungserfolg sinnvoll miteinander verzahnt werden. Nur dann könnten alle dafür relevanten Akteure voneinander lernen und profitieren können.