Studie mit Handlungsempfehlungen

Service Learning in den MINT-Fächern

Thema

Lernen durch Engagement in MINT-Fächern an der Schule

Herausgeberschaft

Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Autoren/Autorinnen

Heinz Reinders/Laura Bünner/Miriam Heeg/Stefanie Hillesheim/Helen Sayegh

Erscheinungsort

Würzburg

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Siemens Stiftung, Freudenberg Stiftung

Literaturangabe

Heinz Reinders/Laura Bünner/Miriam Heeg/Stefanie Hillesheim/Helen Sayegh: Service Learning in den MINT-Fächern. Ergebnisse einer wissenschaftlichen Begleitstudie bei Schulen in Bayern und Sachsen-Anhalt. (= Schriftenreihe Empirische Bildungsforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Band 35). Würzburg 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

In der Publikation werden die Ergebnisse einer empirischen Studie vorgestellt, in der drei Themenbereiche im Fokus stehen:

  • der Fachkräftemangel in den sog. MINT-Berufen (Tätigkeitsbereiche, die naturwissenschaftliche, mathematische oder informationstechnologische Kompetenzen erfordern),
  • die Vermittlung von Werten in pluralisierten Gesellschaften,
  • das Lehr-Lern-Konzept des Service Learning (Lernen durch Engagement) als Modell, in dem Werte und Fachwissen durch eine Verknüpfung von akademischer Theorie und sozialer Praxis vermittelt werden.

In der Publikation werden die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitstudie eines Praxisprojekts dargestellt, das von der Siemens Stiftung und der Freudenberg Stiftung initiiert und gefördert wurde. Im Rahmen dieses Projekts haben Schulen in Bayern, Berlin und Sachsen-Anhalt Service Learning als Methode eingesetzt, um Schülerinnen und Schülern Werte durch naturwissenschaftliche Inhalte zu vermitteln.

So haben zum Beispiel Schülerinnen und Schüler einer 6. Klasse ein Projekt entwickelt, bei dem sie für und mit Kindergartenkindern naturwissenschaftliche Experimente rund um das Thema Wasser entwickeln und gemeinsam durchführen. An einer anderen Schule befassten sich Schülerinnen und Schüler einer 2. Klasse mit dem Thema Brandschutz als Teil des Sachunterrichts und vermittelten diese Kenntnisse in Zusammenarbeit mit der Feuerwehr an gleichaltrige Kinder mit Fluchterfahrung.

Ziel des Pilotprojekts ist es, die drei Aspekte MINT, Wertevermittlung und Service Learning zu verknüpfen. Untersucht wird, ob dieses didaktische Modell in der Lage ist, dieses Ziel zu erreichen und die Werte der Nachhaltigkeit, des Umweltbewusstseins, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität sowie der Verantwortungsübernahme zu befördern.

Die vorgestellte Untersuchung ist eine besondere Form der Interventionsstudie, indem die Effekte eines Treatments gemessen und damit der Erfolg einer Intervention beleuchtet wird. Das Treatment wurde von Mitarbeitenden der beiden Stiftungen angeleitet und durch die Lehrkräfte an den Schulen umgesetzt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Lehrstuhls Empirische Bildungsforschung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg begleiteten das Projekt.

Das Modellprojekt verbindet thematische Schwerpunkte der zwei Stiftungen, die jeweils ihre Expertise in den beiden Bereichen einbringen:

  • Die Siemens Stiftung hat das Konzept „Experimento“ entwickelt, das Lehr- und Erziehungskräften an Grund- und weiterführenden Schulen eine alltagsgerechte und lehrplanorientierte Auswahl an Themen rund um die Bereiche Energie, Umwelt und Gesundheit bietet. Das Ziel, Heranwachsende für naturwissenschaftliche Themen zu begeistern soll mit Wertevermittlung verknüpft werden (gegenstandbezogene und lernprozessbezogene Werte).
  • Die Freudenberg Stiftung bringt ihre langjährige Expertise in der Umsetzung von Service Learning-Projekten ein. Service Learning ist eine Lehr-Lern-Form, in der Lernende in der Schule oder Hochschule ihr erworbenes Wissen zum sozialen Nutzen für ihre Gemeinde umsetzen. Ziel ist es, das Wissen der Schülerinnen und Schüler zu vertiefen und die jungen Menschen gleichzeitig für soziale Fragen und Werte zu sensibilisieren. Didaktisch sieht das Konzept ein hohes Maß an Lernautonomie und intensive Reflexion für die Schülerinnen und Schüler vor, über die theoretische Inhalte und reale Praxiserfahrungen miteinander verknüpft werden.

 Ziel ist es, die Vermittlung von Werten in den MINT-Fächern über das didaktische Konzept des Service Learning zu intensivieren.

Die Untersuchung begleitete einen Modellversuch im Schuljahr 2015/16 an Schulen in Sachsen-Anhalt und Bayern. Der Ansatz wurde erstmalig erprobt und in zwei Phasen durchgeführt:

1. Qualifizierungsphase: Lehrkräfte wurden qualifiziert

2. Umsetzungsphase: Schulen haben mit der Planung und Umsetzung ihrer Projekte im Rahmen der MINT-Fächer unter Nutzung des Service Learning-Ansatzes begonnen

Dabei gab es erhebliche zeitliche und inhaltliche Variationen an den Projektschulen.

Im Rahmen der Begleitstudie wurden acht Lehrkräfte der beteiligten Schulen vor Beginn und nach Beendigung des Projekts mittels qualitativer Leitfaden-Interviews in Anlehnung an die Methode des Experten-Interviews befragt. Die Schülerinnen und Schüler haben ein Reflexionstagebuch erhalten, in dem sie zu bestimmten Zeitpunkten ihre Gedanken zu ihren Erfahrungen in der Praxis, im Unterricht und in der Verknüpfung von beidem äußern konnten. Die Reflexionstagebücher waren demnach sowohl Erhebungsinstrument (quantitative Auswertung) als auch Intervention zur (geplanten) Verbesserung der Praxis. Den Schülerinnen und Schülern wurde zur Erfassung ihrer persönlichen Werte und ihrer Wahrnehmung des Projektverlaufs zusätzlich ein Fragebogen zur Beantwortung vor und zwei Wochen nach dem Projekt vorgelegt. Dadurch sollten mögliche Veränderungen in den Werten der Kinder und Jugendlichen nachgezeichnet und auf interpretatorischer Ebene der Teilnahme am Modellprojekt zugeordet werden. Ergänzend wurden zehn Schülerinnen und Schüler in qualitativen Interviews befragt, um durch wertebezogene Dilemmata Argumentationen aufzudecken, die die Schülerinnen und Schüler im Spannungsfeld von eher abstraktem Wert einerseits und konkreten Handlungen andererseits entwickeln.

Wichtige Ergebnisse

Als Qualitätsstandards von Service Learning werden in der Forschungsliteratur benannt:

  • Realer Bedarf: Projekte sollen (möglichst nach Recherche im sozialen Umfeld der Schule) auf einen Bedarf reagieren, der tatsächlich in der Gemeinde besteht.
  • Schülerpartizipation: Die Schülerinnen und Schüler sollen bei allen Projektschritten maßgeblich mitwirken und die Möglichkeit zur Mitbestimmung erhalten und auch nutzen können.
  • Reflexion: Das Projekt soll die Möglichkeit bieten, über Erfahrungen und deren Verknüpfung mit den Unterrichtsinhalten zu reflektieren sowie die eigene Person im Kontext des Projekts durchdenken zu können.
  • Curriculare Anbindung: Die Projektinhalte sollen an den Lehrplan der jeweiligen Klassenstufe(n) inhaltlich anknüpfen und diese im Projekt theoretisch und praktisch umsetzen.
  • Blick in die Zukunft: Service Learning-Projekte sollen nachhaltig, also mit Blick auf eine Weiterführung und mit Blick auf die weitere Entwicklung der Schülerinnen und Schüler durchgeführt werden.
  • Anerkennung und Abschluss: Die Projekte sollen im Verlauf und zum Abschluss Anerkennungen für die Schülerinnen und Schüler ermöglichen, durch die die Leistung der Beteiligten nach innen und außen kommuniziert und gewürdigt wird.

Beispiele für Projekte an den Schulen:

  • 26 Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse beschäftigten sich im Physikunterricht mit den fachlichen Aspekten von Energie und engagierten sich gleichzeitig für den verantwortungsbewussten Umgang mit Energie im öffentlichen Raum,
  • zehn Schülerinnen und Schüler einer 3. Klasse lernten im Schulgartenunterricht Kräuter und deren Einsatzmöglichkeiten kennen und legten in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung eine Kräuterspirale an,
  • 14 Schülerinnen und Schüler einer 2. Klasse lernten das Verbrennungsdreieck kennen und beschäftigten sich mit Brandschutz; in Zusammenarbeit mit der Feuerwehr vermittelten sie dann diese Kenntnisse an Menschen mit Fluchterfahrung,
  • 13 Schülerinnen und Schüler setzten sich mit dem Thema Drogen auseinander und engagierten sich darüber hinaus in einer Enrichtung für Drogenabhängige, indem sie Selbstgekochtes zur Verfügung stellten,
  • 20 Schülerinnen und Schüler aus der 7. und 8. Klasse lernten im Physik- und Chemieunterricht komplexe Naturphänomene kennen, entwickelten daraus altersgerechte Unterrichtssequenzen und Experimente für die 3. und 4. Klassenstufe und führten diese über ca. zehn Monate mit den Grundschulkindern durch.

Ausgewählte Ergebnisse

1. Beschreibung der Projekte aus Sicht der Lehrkräfte

Vereinzelt wiesen Lehrkräfte darauf hin, dass das Projekt als zu ambitioniert empfunden wurde und die Motivation der Schülerinnen und Schüler instabil war. Einheitlich benannten die interviewten Lehrkräfte das Problemfeld Zeit. Gründe hierfür wurden in fehlendem Personal, zu großem Stoffdruck, geringer Unterstützung im Kollegium und der steigenden Notwendigkeit von Zeit für Absprachen gesehen. Das könnte nach Selbsteinschätzung der Lehrkräfte dann auch dazu führen, dass Qualitätsstandards nicht immer erfüllt werden (können).

Es gibt nur sehr wenige Aussagen dazu, ob und wo in den Projekten das Thema Werte explizit mit den Schülerinnen und Schülern bearbeitet wurde. Die Lehrkräfte benannten in den Interviews zahlreiche Aspekte, bei denen sie vermuten, dass Wertevermittlung implizit stattgefunden hat. Dabei zeigten sich unterschiedliche Profile der verschiedenen Schulen: Während manche Schulen stärker umweltbezogene Werte betonen, legen andere Schulen einen stärkeren Fokus auf die Werte soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Auffällig ist zudem, dass alle Schulen angeben, dass der Wert Verantwortungsübernahme eine mittlere bis starke Verortung in den Projekten erfahren habe.

  • Verantwortungsübernahme wird in allen Interviews als Bestandteil der Projekte erachtet, wobei die Lehrkräfte in der Regel vor allem die handlungsbezogene Komponente dieses Wertes adressieren. Sie thematisieren häufig Situationen, in denen die Schülerinnen und Schüler durch die Eigenständigkeit der Projektarbeit Verantwortung übernehmen, entweder allgemein für den Projektfortschritt, für die Mitschülerinnen und -schüler oder für die Projektpartner.
  • Auch das Umweltbewusstsein wird in allen Interviews angesprochen und in der Regel im Projektverlauf verortet.
  • Nachhaltigkeit ist den interviewten Lehrkräften als Grundkonzept nicht einheitlich deutlich, es werden eher diffuse Assoziationen geweckt. Diese können in die Interpretation von Nachhaltigkeit als Bestandteil von Umweltbewusstsein einerseits und Nachhaltigkeit als etwas zeitlich Überdauerndes andererseits eingeordnet werden.
  • Bei der Solidarität handelt es sich – neben der sozialen Gerechtigkeit – um einen Wert, der etwas stärker zwischen den Schulen differenziert. Nur Lehrkräfte an zwei Schulen sehen diesen Wert stark in ihren Projekten verortet, alle anderen äußerten sich dazu zurückhaltender. Solidarität wurde meist auf die Zusammenarbeit der Schülerinnen und Schüler bezogen und im Grunde nicht als Wert mit gesellschaftlicher Bedeutung angesprochen.

2. Beschreibung des Projekts durch die Schülerinnen und Schüler

Die quantitaiven Auswertungen von Reflexionstagebüchern ergaben, dass es durch einen Ansatz systematisch gelingen kann, den erreichten Reflexionsgrad der Schülerinnen und Schüler zu rekonstruieren und als besonderes Handlungsfeld die verstärkte Verknüpfung von Theorie und Praxis in den Blick zu nehmen.

Deutlich wurde, dass die Schülerinnen und Schüler besonders gut in der Lage sind, das im Projekt Erlebte zu beschreiben (Phase 1), ihre Gefühle und Gedanken zu reflektieren (Phase 2) und sich individuelle und gesellschaftliche Handlungsoptionen zu überlegen (Phase 4). Eine Herausforderung stelle für die Schülerinnen und Schüler die Wahrnehmung der Untzerrichtsinhalte und deren Verknüpfung mit der Projektpraxis dar (Phase 3).

Die Auswertung der Dilemmta-Interviews mit Schülerinnen und Schülern erlaubte hingegen keine systematischen Rückschlüsse darauf, ob und unter welchen Bedingungen die Teilnahme an den Service Learning-Projekten zu Werteveränderungen beitragen konnte. Es sei jedoch plausibel, dass Schülerinnen und Schüler durch das Erleben von Umweltherausforderungen dazu tendieren, Werte der Nachhaltigkeit oder des Umweltschutzes differenzierter zu begründen. Bei Werten mit Sozialbezug würden sie einerseits zunehmend einfache Argumente bevorzugen, gleichzeitig aber auch eine generalisiertere Geltung dieser Sozialwerte wünschen.

3. Werteentwicklung im Projektverlauf

Insgesamt war die Motivation der Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme an dem Service Learning-Projekt hoch. Auch die eigene Reflexionsfähigkeit schätzten die Schülerinnen und Schüler als sehr hoch ein. Somit waren wichtige Voraussetzungen zur Durchführung des Projekts gegeben.

Vor Projektbeginn und nach Abschluss der Projekte wurden alle Werte bei den Schülerinnen und Schülern erhoben, um mögliche Veränderungen feststellen zu können:

  • Nachhaltigkeit: deutliche Befürwortung, keine Veränderung der Einstellung
  • Soziale Gerechtigkeit: hohe Zustimmung, keine Veränderung im Verlauf
  • Solidarität: höhere Zustimmung und leichter, aber signifikanter Rückgang im Verlauf (am stärksten bei Kindern bis einschließlich 12 Jahren, bei älteren Schülerinnen und Schülern Konstanz)
  • Umweltbewusstsein: hohe Zustimmung und Stabilität im Zeitverlauf
  • Verantwortungsübernahme: konstante hohe Befürwortung

Bei den Werten zeigt sich bei allen Schülerinnen und Schülern keine systematische Veränderung im Verlauf des betrachteten Zeitraums.

4. Fazit zum Prozess und Output

Aus subjektiver Sicht – vor allem der Lehrkräfte – werde deutlich, dass projektkonforme Ziele verfolgt wurden und ein hohes Committment bestand, das Projekt erfolgreich umzusetzen. Variationen zeigten sich darin, wie planvoll das Konzept umgesetzt wurde und wo sich eher emergierende Strukturen ergaben, beispielsweise die anlassbezogene Kooperation mit anderen Lehrkräften. Der Wertebezug der Projekte sei unterschiedlich eingeschätzt worden – sowohl quantitativ (Anzahl der Werte) als auch qualitativ (Intensität der Werte in den Projekten).

Aus den Reflexionstagebüchern der Schülerinnen und Schüler könne abgeleitet werden, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Erlebnisse gut schildern konnten, der Bezug zu Inhalten des Unterrichts aber Variationen aufwies. Die Übertragung der eigenen Erfahrungen in Richtung Gesellschaftsbezug habe durchaus stattgefunden, die meisten Schülerinnen und Schülern aber nicht „erreicht“. Im Ergebnis zeige sich, dass Merkmale der Lehrkräfte, des Schulalltags und Projektcharakteristika den Umsetzungsprozess stärker gesteuert haben als ein vergleichbarer Verlauf über die Schulen hinweg.

Als allgemeines Muster zeichne sich in den Daten ab, dass intensive Werteerfahrungen in den Service Learning-Projekten mit einer als höher erlebten sozialen Handlungswirksamkeit und in der „Folge“ spezifischen Reflexionsfähigkeit korrespondieren. Hier könnte ein wichtiger Ansatzpunkt für die Verbesserung der Schulpraxis in solchen Projekten liegen. Eine Schlüsselrolle komme der systematischen Umgangsweise mit Reflexionsprozessen zu.

Das Fazit zum Output des Projekts lautet, dass sich die Werte der Schülerinnen und Schüler zwar nicht global durch die Teilnahme am Projekt geändert haben, dass aber schulspezifische und didaktische Momente identifiziert werden konnten, die einen Zusammenhang zur Valenz von Werten erwarten lassen.

Empfehlungen zur Verstetigung der Maßnahme:

  • Ausdehnung des Zeitrahmens
  • Stringentes Auswahlverfahren für Schulen
  • Qualifizierung/Fortbildung eines hohen Anteils der Lehrkräfte
  • stärkeres Monitoring zur Prozessverbesserung
  • Anreizsteigerung für Schulen
  • Intensivierung der Schulbegleitung
  • Schaffung einer Koordinations- und Projektstelle
  • Inhaltliche Fokussierung (z.B. auf das Erleben von Sozialer Handlungswirksamkeit und Reflexionsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler)