Projektbericht

Quartiere kooperativ entwickeln

Thema

Gemeinwohlorientierte Stadtteilentwicklung

Herausgeberschaft

Montag Stiftung Urbane Räume

Erscheinungsort

Bonn

Erscheinungsjahr

2016

Stiftungsengagement

Montag Stiftung Urbane Räume

Literaturangabe

Montag Stiftung Urbane Räume (Hrsg.): Quartiere kooperativ entwickeln. Initialkapital für eine chancengerechte Stadtteilentwicklung. Programmbericht 2015/2016. Bonn 2016.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Die Montag Stiftung Urbane Räume engagiert sich seit vielen Jahren in benachteiligten Stadtteilen und bringt dort Know-how, Geld und Netzwerkarbeit in Projekte ein. Nachdem sie als Mittlerin und Moderatorin an Prozessen der Stadtteilentwicklung beteiligt war, wollte sie die Investitionsentscheidungen von Kommune und Wirtschaft direkter beeinflussen. So entstand der Wunsch, künftig mit eigenen Investitionen Stadtteilentwicklung zu betreiben.

Daraus entstand 2012 das Programm Initialkapital: Die Carl Richard Montag Förderstiftung stellt Kapital bereit, das vor Ort angelegt wird und über ein Unternehmen mit ausschließlich gemeinnützigen Zielen die Basis für eine chancengerechtere Stadtteilentwicklung vergrößern soll. Die Investitionen in Immobilien werden dabei mit Investitionen in das gemeinschaftliche Miteinander im Viertel eng verknüpft. Dieses Modell, Investitionen „in Steine“ und Investitionen „in Menschen“ sehr viel stärker zu koppeln, wird seit 2013 im ersten Initialkapital-Projekt in Krefeld erprobt. Noch vor Abschluss dieses Pilotvorhabens begann die Stiftung mit einem zweiten Initialkapital-Programm. Im Fokus stehen Stadtviertel, die sich unter sozialräumlichen und sozioökonomischen Gesichtspunkten in einem „indifferenten Gleichgewicht“ (Wolfgang Kiehle) befinden. Die Stiftung will dazu beitragen, in solchen Vierteln das gute Zusammenleben in soziokulturell gemischten Nachbarschaften zu stabilisieren.

Die Stiftung stellte fest, dass die vielfältigen, dafür erforderlichen Ressourcen vor Ort nur teilweise vorhanden sind: Den Kommunen mangele es häufig an den finanziellen und vor allem personellen Ressourcen, um komplexe und vielschichtige Entwicklungsvorhaben umsetzen zu können. Den zivilgesellschaftlichen Initiativen fehlten meist nicht nur die notwendigen finanziellen Mittel, sondern auch unternehmerische und betriebswirtschaftliche Erfahrungen. Deutlich wurde, dass das nachbarschaftliche Miteinander in den Vierteln zudem unter dem teilweisen Rückzug traditioneller Träger der Gemeinwesenarbeit wie zum Beispiel der Kirchengemeinden und Gewerkschaften leidet. Immer häufiger würde Gemeinwesenarbeit daher anlass- und fallbezogen stattfinden.

Die Stiftung erkannte demnach einen gesellschaftlichen Bedarf für neue Ressourcen und Strategien und entschied sich dazu, im Jahr 2015 einen bundesweiten Projektaufruf durchzuführen. Es sollten Projektideen eingereicht werden, die mithilfe des Initialkapital-Modells umgesetzt werden könnten: Welche Themen sind wichtig? Welche Kooperationen sind geeignet? Was können die Projekte zu gemeinwohlorientierter Stadtteilentwicklung und Stadterneuerung beitragen?

Der Aufruf richtete sich an Verwaltungen, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Initiativen aus Städten mit mehr als 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die eingereichten Projektvorschläge können laut Stiftung wichtige Hinweise darauf geben, ob und wie sich Akteure aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Kommune in solchen Stadtvierteln engagieren möchten und welche Erwartungen sie an eine gemeinwohlorientierte Stadtteilentwicklung haben.

Mit dem vorliegenden zweiten Bericht zum Programm Initialkapital möchte die Stiftung solche Erkenntnisse und Erfahrungen aus der laufenden Programm- und Projektarbeit der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen. Der Bericht ist in drei Teile gegliedert. Im einführenden Teil A werden die Möglichkeiten und Grenzen des Programms im Verhältnis zu den aktuellen Fragen der Stadterneuerung erörtert. Teil B behandelt die Ergebnisse des Projektaufrufs in 2015. Der dritte Teil C ist dem Pilotprojekt im Krefelder Samtweberviertel gewidmet. In einer Zwischenbilanz wird über den Stand der Umsetzung der verschiedenen Projektbausteine berichtet.

Wichtige Ergebnisse

Auswertung des Projektaufrufs

Innerhalb von zwei Monaten wurden 64 Projektvorschläge eingereicht. An 47 Projekteinreichungen waren zivilgesellschaftliche Partner beteiligt, was nach Ansicht der Stiftung die hohe Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements in der Stadterneuerung zeigt. Kommunen und Wirtschaftsunternehmen waren bei 27 bzw. 22 Projektvorschlägen dabei, was dafür spreche, dass auch Wirtschaftsunternehmen zunehmend erkennen, wie wichtig ihr Engagement im Stadtviertel als Ganzes ist. Die interessierten Unternehmen kamen nicht nur aus der Immobilienwirtschaft, sondern es waren auch um ortsansässige, mit dem Viertel verbundene Unternehmerfamilien oder kleine und mittlere Betriebe aus den unterschiedlichsten Branchen. Sämtliche Projekteinreichungen kamen aus Stadtteilen, in denen sich die durchschnittlichen Wohnungsmieten auf einem – im Vergleich zur Gesamtstadt – niedrigen bis mittleren Preisniveau befinden. Bei der inhaltlichen Ausrichtung habe sich zunächst das erwartbare Spektrum klassischer sozialer Stadterneuerung gezeigt. Darüber hinaus seien Projekte aus dem Bereich Kunst und Kultur oder Projekte des nachhaltigen und solidarischen Wirtschaftens häufiger vertreten. Besonders interessant seien Projektvorschläge, die verschiedene Themen (Wohnen, Gewerbe, Soziokultur etc.) auch in ihrem immobilienwirtschaftlichen Part kombinieren. Etwa die Hälfte aller Projekteinreichungen kamen aus Stadtvierteln, die als überdurchschnittlich „jung“ und „bunt“ bezeichnet werden können, somit Quartiere mit vielen Kindern und Jugendlichen und einem hohen Maß an sozialer und kultureller Heterogenität innerhalb der Bevölkerung. Diese besondere soziodemografische Ausgangslage sei auch in der inhaltlichen Ausrichtung der Projektvorschläge wiederzufinden.

Aus den Projekteinreichungen leitet die Stiftung folgende Erkenntnisse ab:

1. Verlässliche Partnerschaften brauchen Zeit

Einige der Einreichungen würden gute, innovative, der Komplexität der jeweiligen Herausforderungen angemessene Ansätze beschreiben, die wertvolle neue Impulse für die Quartiere bringen könnten. Sie ließen sich aber oft nur in Kooperationen umsetzen, zum Beispiel aus Kommune und Zivilgesellschaft oder in anderen Konstellationen.

An den Schnittstellen dieser notwendigen Zusammenarbeit seien bereits in den Konzepten Grenzen und Barrieren spürbar, die in unterschiedlichen

Handlungsgeschwindigkeiten und eingefahrenen Rollenmustern begründet sind und die für eine fruchtbare Zusammenarbeit erst einmal beseitigt werden müssten. Der Aufbau verlässlicher Partnerschaften brauche allerdings Zeit, insbesondere dann, wenn eine akteursübergreifende Kooperation auf Augenhöhe noch ungewohnt ist. Dies sei sicherlich ein Grund, warum viele der Projekteinreichenden zwar immer mehrere Kooperationspartner genannt haben, der Antrag aber nicht unbedingt partnerschaftlich erarbeitet wurde.

2. Immobilienwirtschaftliches Know-how fehlt häufig

Das ambitionierte Ziel des Programms, eine „Stadtteilrendite“ zu erwirtschaften, stehe in der Stadtentwicklung noch ganz am Anfang. Weder die Mehrheit der privaten noch der öffentlichen Akteure, die sich lokal für die Stadtteilentwicklung einsetzen, hätten damit Erfahrungen. Der in den Einreichungen beschriebene immobilienwirtschaftliche Ansatz zur Erwirtschaftung von Überschüssen für den Stadtteil sei in vielen Fällen noch schwach ausformuliert. Bemerkenswert seien vor allem die eher offen gehaltenen Ideenskizzen aus der Zivilgesellschaft, deren Lücken durch geeignete Partnerschaften (z. B. mit Wohnungswirtschaft und Kommunen) geschlossen werden könnten.

3. Grenzen des Immobilienmarktes – ohne Fördermittel geht es nicht

Um ihren Ideen Räume zu geben, hätten sich die Projekteinreichenden in ihren Stadtteilen auf die Suche nach geeigneten Immobilien gemacht. Dabei seien auch weniger „sichtbare“ Flächen wie Brachen oder leerstehende Ladenlokale gefunden worden. Tatsächlich würden die Einreichungen den Eindruck erwecken, es gebe überall Flächen oder Gebäude, mit denen sich Projekte realisieren ließen. Problematisch seien dagegen die generierbaren Mieten in Städten mit einem geringen Mietniveau; in den benachteiligten Stadtteilen verschärfe sich dieses Problem noch einmal. Aus der Perspektive der Mieterinnen und Mieter erscheine das wahrscheinlich positiv, doch für die Erwirtschaftung eines Überschusses durch Mieteinahmen sei es eine große Hürde. Ohne zusätzliche Förderung sei in solchen Stadtteilen der immobilienwirtschaftliche Ansatz des Programms Initialkapital nicht zu realisieren.

4. Initialkapital ist keine Patentlösung

Ein Großteil der Projektvorschläge komme aus Stadtteilen, auf die die Bezeichnung „benachteiligt“ zutreffe. Auch nach 20 Jahren Städtebauförderung seien die Bewohnerinnen und Bewohner einzelner Stadtteile nach wie vor arm bzw. von Armut bedroht und von Verfall und Perspektivlosigkeit umgeben. Hier sei auch das Programm Initialkapital keine Patentlösung, doch könne es vielleicht neue Perspektiven eröffnen. Allerdings sei es schwierig, dort Ansätze zu verfolgen, die zu weiten Teilen auf der Generierung von Überschüssen aus der Immobilienbewirtschaftung basieren. Dies würde sowohl den Stadtteil als auch die Stiftung überfordern. Stattdessen gelte es, die richtige Balance zwischen Unterstützung und Mobilisierung vorhandener Potenziale zu finden, damit das Initialkapital sinnvoll eingesetzt werden kann.

Perspektiven für zivilgesellschaftliches Handeln in der Stadtteilentwicklung

Diese Erkenntnisse können um die Erfahrungen ergänzt werden, die die Stiftung mit zahlreichen aktiven Nachbarschaftsinitiativen im Programm Neue Nachbarschaft sammelt. Daraus werden Thesen zu den Perspektiven zivilgesellschaftlich getragener Stadtteilentwicklung formuliert:

  • Bürgerschaftliches und sozialraumorientiertes Engagement sei ein verlässlicher Faktor und liege im Trend, ob mit oder ohne Immobilien.
  • Selbstorganisiertes Engagement für die eigene Nachbarschaft finde vor allem dort statt, wo Menschen Verantwortung übernehmen können bzw. Menschen mit überschüssigen sozialen, kulturellen oder finanziellen Ressourcen leben. Ihre Initiativen seien meist klein und verfügten jenseits der Eigenleistung in der Regel über wenig Eigenkapital, sodass sie notwendigerweise eher kleinteilige und innovative Lösungen favorisieren. Auch wenn Lebensweisen und Lebensalter zivilgesellschaftlich engagierter Menschen sehr unterschiedlich sind, so seien sie meist gut ausgebildet und zu großen Teilen deutscher Herkunft. Aspekte des alternativen Wirtschaftens, der kreativen Produktion und des selbstbestimmten Wohnens, Lebens und Arbeitens hätten vor allem in städtischen Milieus große Bedeutung.
  • Die oft soziale oder kulturelle Motivation für bürgergesellschaftliches Engagement sei durchaus mit unternehmerischen Energien und einem Bewusstsein für die finanziellen Risiken verbunden. Das Risikobewusstsein mache jedoch nicht mutlos, sondern lasse die Akteure offenbar nach anderen Wegen der Finanzierung suchen.
  • Die starke Präsenz politisch und emanzipatorisch geprägter Projekte der Gegenwart sollte nicht vergessen lassen, dass es bereits seit den 1980er Jahren viele selbstverwaltete Kulturzentren, Jugendhäuser, Kindertagesstätten oder soziale Zufluchtsorte gibt, die teilweise in Selbsthilfe entstanden sind und noch heute als wichtige Orte für ein lebendiges Gemeinwesen gelten.
  • Im ländlichen Raum sei das zivilgesellschaftliche Engagement nicht geringer, allerdings seien die Aufgaben zumeist etwas anders und die Milieus tendenziell konservativer. Dort dominierten mittlere und ältere Altersgruppen, die den Zusammenhalt der Dorfgemeinden und die Sicherung von Infrastruktur und Nahversorgung im Blick haben. Sie wollten vor allem dazu beitragen, dass ihr Lebensumfeld lebenswert und lebendig bleibt und knüpften dabei an teils weit zurückreichende Traditionen an – bis hin zu den dörflichen Allmenden.
  • Zivilgesellschaftliche Initiativen seien nicht kreativer als Kommunen. Kommunale Akteure würden sich in gleichem Maße auf experimentelle Ansätze und Strategien einlassen, wie es Initiativen gibt, die sich für ihre Nachbarschaft eine konventionelle Gemeinwesenarbeit wünschten.

Noch seien solche zivilgesellschaftlichen Projekte vereinzelte und daher besondere Vorhaben. Doch könne deren Wert für die jeweilige Nachbarschaft groß sein. Sie könnten Angebote für die Nachbarschaft schaffen, die über den eigenen Nutzen hinausgehen, und Netzwerke zwischen verschiedenen Akteuren knüpfen, die im gleichen Sozialraum tätig sind. Damit könnten sie „ihr“ kleines Stück Stadt häufig der Spekulation auf dem Immobilienmarkt entziehen. Die soziale Qualität fuße auf der lokalen Verankerung der „Macher“: Dazu zählten freundschaftliche bzw. familiäre Netzwerke genauso wie das alltägliche Leben im Stadtviertel. So lasse sich ein zivilgesellschaftliches Engagement auch über längere Zeiträume aufrechterhalten, weil sich die Menschen vor Ort gegenseitig unterstützen und mögliche Engpässe ausgleichen können.