Studie mit Handlungsempfehlungen

Pathways to Success. Erfolgreiche Einwandererkinder und ihre Aufstiegskarrieren im urbanen und internationalen Vergleich

Thema

Bildungs- und Berufschancen von Einwandererkindern

Herausgeberschaft

Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück

Autoren/Autorinnen

Jens Schneider/Christine Lang/Andreas Pott

Erscheinungsort

Osnabrück

Erscheinungsjahr

2016

Stiftungsengagement

Stiftung Mercator

Literaturangabe

Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück (Hrsg.): Pathways to Success. Erfolgreiche Einwandererkinder und ihre Aufstiegskarrieren im urbanen und internationalen Vergleich. Osnabrück 2016.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

„ELITES – Pathways to Success“ ist ein europäisches Forschungsprojekt, das sich mit den erfolgreichen Bildungs- und Berufskarrieren der Nachkommen von Eingewanderten in sechs Ländern beschäftigt. In Deutschland wurde das Projekt von der Stiftung Mercator gefördert und vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück durchgeführt. Analysiert wurden die Werdegänge von über 70 Personen, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind und die in den Bereichen Jura, Wirtschaft, Verwaltung und Schule tätig sind, die meisten von ihnen in verantwortungsvollen und führenden Positionen. Mit diesen Personen wurden zwischen 2012 und 2014 Interviews in Berlin, in Frankfurt am Main und im Ruhrgebiet durchgeführt.

In der Studie wird insbesondere der Einfluss von institutionellen Faktoren und deren Zusammenspiel mit familiären Faktoren und Persönlichkeitsmerkmalen der einzelnen Person untersucht. Zu den institutionellen Faktoren gehören zum Beispiel die Offenheit einer Schule für Kinder aus eingewanderten Familien oder die Rolle von Stereotypen bei der beruflichen Einstellungspraxis. Familiäre Faktoren sind zum Beispiel der Bildungsgrad und die Sprachkenntnisse der Eltern. Als Vergleichsgruppe dienten Personen aus Familien ohne Zuwanderungsgeschichte, die ebenfalls einen Bildungsaufstieg vollzogen haben. In diesem Personenkreis wurden 20 Interviews geführt.

Wichtige Ergebnisse

1. Ergebnisse der Befragung

Die Befragten wurden aufgrund ihrer beruflichen Position in leitender und verantwortungsvoller Tätigkeit ausgewählt. Die meisten von ihnen haben das Gymnasium besucht und darüber hinaus das Abitur und einen Hochschulabschluss. Damit gehören sie zu einer kleinen Minderheit, da es in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nur sehr wenige Kinder aus türkeistämmigen Arbeiterfamilien auf das Gymnasium geschafft haben (in anderen EU-Staaten ist das weit häufiger der Fall). Schwierigkeiten auf diesem Weg sind zum Beispiel diskriminierende Erlebnisse und Benachteiligungen aufgrund des nichtdeutschen oder nichtakademischen Hintergrunds des Elternhauses.

Dabei zeigen sich Unterschiede zwischen den Bundesländern: So sind zum Beispiel im Ruhrgebiet und in Frankfurt am Main aufgrund der höheren Dichte an Gesamtschulen und Aufbaugymnasien für Schülerinnen und Schüler mit mittlerem Schulabschluss deutlich mehr Befragte auf indirektem Weg auf die Universität oder Fachhochschule gelangt als in Berlin.

Die grundsätzlich vorhandenen Möglichkeiten im Bildungssystem, verschiedene Qualifikationsstufen aufeinander aufzubauen (zum Beispiel Hauptschulabschluss – Berufsfachschule – Fachoberschule – Fachhochschule), werden offenbar kaum genutzt. Ein Ergebnis der Studie lautet, dass eine möglichst lange Weiterqualifikation im Bildungssystem zu wenig gefördert wird. Stattdessen werde einseitig auf die berufliche Ausbildung gesetzt.

In keinem der drei betrachteten regionalen Schulsysteme (Berlin, Frankfurt am Main, Ruhrgebiet) wurden die Begabungen der Befragten systematisch und verlässlich gefördert. Sehr viele Interviewte berichten, dass die Schulen an ihren Talenten weder interessiert waren noch an diese geglaubt haben. Oft hätten sie sich nur durchsetzen können, weil sie entweder besonders begabt und willensstark waren oder das Glück hatten, auf die spezielle Förderung durch eine Schlüsselperson zählen zu können, etwa Lehrkräfte, Nachbarinnen und Nachbarn oder die Eltern von Schulfreundinnen oder -freunden. Die Studie macht somit deutlich, dass der Schulerfolg von sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteigern mit und ohne familiäre Zuwanderungsgeschichte häufig vom Zufall bzw. von der Unterstützung einzelner Personen abhängig ist.

Eine große Rolle spielten bei der weit überwiegenden Zahl der Befragten die Eltern und Familien. Die Eltern hätten zwar fachlich kaum helfen können, sich aber in der Regel bemüht, eine möglichst lernfördernde Umgebung zu schaffen – sei es durch die Finanzierung von Nachhilfe oder eine klare Priorisierung von Schule und Studium. Auch die Geschwister gaben häufig Unterstützung, bis hin zur Beteiligung an der Finanzierung des Studiums durch schon berufstätige Brüder und Schwestern.

Übergang in den Arbeitsmarkt

Karrieren in den Bereichen Jura und Schule sind nur mit einem Hochschulstudium möglich. Auch bei den befragten Unternehmerinnen und Unternehmern oder Managerinnen und Managern in der freien Wirtschaft hat der Weg in die aktuelle Position nur in Ausnahmefällen über die Berufsausbildung geführt. Meist wurde nach der Ausbildung oder berufsbegleitend ein Studium angeschlossen.

Beim Übergang in den Arbeitsmarkt wird deutlich, dass Kriterien, die sich an tatsächlicher Leistung orientieren, auf Handlungsspielräume treffen, in denen sogenannte Gatekeeper auch nach nicht sachbezogenen Kriterien den weiteren Berufsverlauf entscheidend beeinflussen können, beispielsweise Prüfende im Staatsexamen oder bei der Lehrprobe, aber auch Vorgesetzte oder Personalverantwortliche. Türkeistämmige Bewerberinnen und Bewerber müssen immer wieder damit rechnen, dass ihr ethnischer Hintergrund in stereotypen Bildern und sachfremd als Entscheidungskriterium für die Vergabe von Stellen herangezogen wird.

Auch am Arbeitsplatz steht der Migrationshintergrund immer wieder im Vordergrund – obwohl alle Befragten bereits in Deutschland geboren wurden und/oder hier aufgewachsen sind. Nach den Ergebnissen der Befragung handelt es sich in den meisten Fällen zwar „nur“ um ethnisierende Zuschreibungen, beispielsweise sich im Ton vergreifende, „scherzhaft gemeinte“ Bemerkungen. Doch berichten die Befragten auch von Diskriminierung und dem Gefühl der Ungleichbehandlung beim Zugang zu höheren Verantwortungsbereichen („gläserne Decke“), sowohl in der freien Wirtschaft als auch im Öffentlichen Dienst.

Für die beiden Bereiche – Übergang in den Beruf und die Situation am Arbeitsplatz – konnte die Untersuchung somit detaillierte Daten und Berichte über Diskriminierung und Benachteiligung, aber auch über Chancen und Ressourcen in der hoch qualifizierten zweiten Generation erfassen.

Zugehörigkeit und Identitäten

Aus verschiedenen Studien (zum Beispiel TIES, in der die Integration der zweiten Generation der Migrantinnen und Migranten untersucht wird) geht hervor, dass Diskriminierungserlebnisse das Zugehörigkeitsgefühl in einer Gesellschaft stark negativ beeinflussen. In den Interviews zeigt sich als roter Faden das Gefühl oder die Erkenntnis, von „der“ Mehrheitsgesellschaft – trotz allen Bemühens – nicht selbstverständlich als zugehörig betrachtet zu werden. Dennoch fühlen sich meisten Befragten praktisch uneingeschränkt in Deutschland und auch am Wohnort zuhause. Sie sind stolz auf ihren erreichten Bildungs- und Berufserfolg, doch sehen sie auch, dass ein vergleichbarer Erfolg für die zweite – und auch die dritte – Generation in Deutschland bis heute keinesfalls selbstverständlich ist.

In der Studie wird darauf hingewiesen, dass die Befragten nicht nur hinsichtlich ihrer Karriereverläufe Ausnahmen darstellen, sondern häufig auch außergewöhnliche Persönlichkeiten sind, für die die Überwindung von immer wiederkehrenden strukturellen Hindernissen sowohl eine Herausforderung als auch zusätzlicher Ansporn war. Diese Personen seien wichtige Protagonistinnen und Protagonisten eines gesellschaftlichen Wandels, bei dem ein routinierter Umgang mit Vielfalt und eine kompetente interkulturelle Orientierung immer wichtiger werden. Die Interviews hätten sehr deutlich gemacht, dass noch immer zu wenige Institutionen auf diesen gesellschaftlichen Wandel vorbereitet und eingestellt sind. So bleibe das besondere Potenzial, das die hoch kompetente zweite Generation für die aktive Gestaltung der sich wandelnden Gesellschaft beisteuern kann, noch vielfach unerkannt und ungenutzt.

2. Empfehlungen an die Politik

Bildungspolitischer Bereich

Aus den Erfolgsbiografien der Befragten im internationalen Vergleich und aus der Tatsache, dass diese Personen in Deutschland immer noch weitgehend Ausnahmen darstellen, werden Schlussfolgerungen abgeleitet, die zum großen Teil mit den „Problemzonen“ des deutschen Bildungssystems zusammenhängen, die seit Langem bekannt sind:

Kinder aus eingewanderten und aus nichtakademischen Familien profitieren in besonderem Maße von einem möglichst frühen Eintritt in die erste Bildungsinstitution. Daraus ergibt sich die Forderung nach flächendeckenden Angeboten für frühkindliche Bildung, die nicht durch die Erhebung von beträchtlichen Gebühren konterkariert werden sollten.

Gerade bei Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache führe die frühe Selektion nach nur vier oder sechs Jahren Grundschule sehr häufig zu Schulempfehlungen, die den tatsächlichen Potenzialen und Talenten der Kinder nicht gerecht werden. Da eine Verlängerung der Grundschulzeit politisch in Deutschland zur Zeit nicht durchsetzbar sei, sollten vor allem spätere Korrekturmöglichkeiten für Fehlentscheidungen und für „Spätblühende“ in Form einer besseren horizontalen Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schulformen geschaffen werden. Diese Diskussion werde bisher kaum geführt oder zu sehr auf die weitere Verbreitung von Gesamtschulen reduziert. Diese seien aber nur dann eine wirkliche Alternative zum Gymnasium, wenn die bisherige Dreigliedrigkeit und die Undurchlässigkeit zwischen den Zweigen nicht intern weiter gepflegt werden.

Der Hauptschulabschluss sollte an Regelschulen nur noch die Ausnahme sein und der Realschulabschluss als Regelabschluss angestrebt werden. Diese Forderung könnte ohne großen Aufwand umgesetzt werden.

Übergänge in die Sekundarstufe II und der Zugang zumindest zum Fachabitur sollten erleichtert und ebenfalls als „Regelweg“ etabliert werden. In fast allen Bundesländern gibt es neben dem Gymnasium nur noch eine Form der Gesamtschule. Auch diese sollte überall regelhaft auch über eine Oberstufe verfügen (siehe zum Beispiel Bremen und Hamburg).

Die Autoren und die Autorin der Studie weisen darauf hin, dass der „Normalfall Vielfalt“ nach wie vor institutionell kaum verankert ist. Das gelte für die Lehramtsausbildung ebenso wie für die Zusammensetzung der Kollegien. Hier sei ein größeres Engagement zur Ausbildung und Rekrutierung von Lehrkräften mit Zuwanderungsgeschichte nötig. Gute Beispiele wie das Lehramtsstipendium „Horizonte“ oder das Projekt „Schülercampus: Mehr Migranten werden Lehrer“ sollten weitergeführt und ausgebaut werden.

Das Thema Diskriminierung sei von zentraler Bedeutung, werde aber im Bereich Schule immer noch weitgehend ignoriert. Hier seien Kooperationsbeziehungen mit unabhängigen Beratungsstellen sowie mehr geschultes Fachpersonal in den Aufsichtsbehörden und den Schulen selbst nötig. Dazu gehöre, Diskriminierungserfahrungen „ansprechbar“ zu machen und den Schulen die Angst vor der Bearbeitung und Lösung von vorgebrachten Fällen zu nehmen.

Auch der Hochschulbereich müsse sich stärker auf die zunehmende Zahl an Studierenden aus nichtakademischen Elternhäusern einstellen: Neben der flächendeckenden Einführung dualer Studiengänge sei es zudem wichtig, dass in klassisch universitären Studiengängen Kontakte zu potenziellen Arbeitgebern gefördert werden. Insbesondere in Fächern wie Jura und Medizin sollten die Betreuungsformen und Orientierungsmöglichkeiten verbessert werden, beispielsweise durch Mentoring-Programme.

Arbeitsmarktpolitischer Bereich

Da der politische Einfluss auf Unternehmen der freien Wirtschaft im Allgemeinen eher gering sei, sollte der Öffentliche Dienst zum Vorreiter für die stärkere interkulturelle Öffnung auch der Führungsetagen werden.

Dazu werden in der Studie einige mögliche Ansätze genannt:

  • Selbstverpflichtung auf Quoten für Personen mit nichtakademischem Hintergrund und/oder Zuwanderungsgeschichte in der Ausbildung und bei der Vergabe von leitenden Stellen im Öffentlichen Dienst;
  • Intensivierung aktiver Maßnahmen (beispielsweise durch eine verstärkte Werbung für die Beschäftigungsmöglichkeiten im Öffentlichen Dienst), die gezielte Ermutigung junger Menschen verschiedenster Hintergründe, eine Laufbahn im Öffentlichen Dienst anzustreben sowie Abbau struktureller Barrieren im Zugang zu Stellen (zum Beispiel Anstellung von Richterinnen und Richtern nicht allein auf Grundlage der Examensnoten);
  • Einführung eines verpflichtenden Monitorings zu Antidiskriminierungsmaßnahmen auf allen behördlichen Ebenen in Zusammenarbeit mit den Antidiskriminierungsstellen des Bundes und der Länder sowie mit unabhängigen Beratungsstellen;
  • Maßnahmen zur symbolischen Stärkung der innerbetrieblichen Akzeptanz von Vielfalt als Normalfall; dazu könnten Instrumente zur Förderung der interkulturellen Öffnung der Organisationen und der „Verwaltungskultur“ ebenso beitragen wie die Begleitung von kleinen und mittleren Unternehmen; viel versprechende Ansätze sollten flächendeckend ausgebaut und langfristig konzipiert werden.

Integrationspolitischer Bereich

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie ist, dass Kinder und Enkel von Zugewanderten in Deutschland auch heute noch in dem Bewusstsein aufwachsen, nicht dazuzugehören. Politik und Medien transportierten dies ebenso wie eine Alltagssprache, die nach wie vor zwischen „Deutschen“ und „Migranten“ unterscheidet. Ebenso drohe mit dem Begriff „Migrationshintergrund“ eine Zementierung des „Andersseins“ auch für die vierte und fünfte Generation.

Nötig wären deshalb die Schaffung und öffentliche Förderung von Maßnahmen zur Stärkung der medialen, politischen und gesellschaftlichen Akzeptanz von Vielfalt als Normalfall. Dazu könnten Schulungen für Medienmachende ebenso gehören wie die Einführung von offiziellen Sprachregelungen mit einem gewissen Symbolgehalt, zum Beispiel die Vermeidung von Begriffen wie „Deutschtürken“.

Ein inkludierender Diskurs müsste die in Deutschland geborenen und aufwachsenden jungen Menschen adressieren, aber auch in viel stärkerem Maße als bisher die Mehrheitsgesellschaft und ihre Diskurskonventionen im Hinblick auf die kulturelle und ethnische Vielfalt der Gesellschaft.

Auch hier könnten Behörden, Ministerien und die politische Leitungsebene mit gutem Beispiel vorangehen. Einen besonderen Symbolgehalt hätten dabei vor allem drei Themenbereiche:

  • Anerkennung der uneingeschränkten Zugehörigkeit der zweiten Generation,
  • Thematisieren und Ächten von strukturellen und verbalen Diskriminierungen (in vielen Ländern haben sich zum Beispiel Bußgeldkataloge für rassistische Bemerkungen bewährt),

Anerkennung der Lebensleistung der Generation der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und ihres Beitrags zum Wohlstand in Deutschland.