KI@Bildung. Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz
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- Bildungssystem
- Digitale Transformation
- Bildungsabschnitt
- Schulische Bildung/Schulbildung
Thema
Technologien der Künstlichen Intelligenz in der schulischen Bildung
Herausgeberschaft
Deutsche Telekom Stiftung
Autoren/Autorinnen
Dr. Ulrich Schmid, Dr. Berit Blanc, Michael Toepel
Erscheinungsort
Bonn/Berlin/Essen
Erscheinungsjahr
2021
Stiftungsengagement
Deutsche Telekom Stiftung
Literaturangabe
Ulrich Schmid/Berit Blanc/Michael Toepel (2021): KI@Bildung. Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz. Schlussbericht im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung. Bonn/Berlin/Essen 2021.
Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise
Im Mittelpunkt dieser "Trendstudie" stehen KI-gestützte, lernförderliche Technologien – d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics basieren. Ausgangsthese ist, dass KI-gestützte Technologien erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung bieten und schulische Lernprozesse befördern können.
Drei Fragen sind erkenntnisleitend:
1. Welche Potenziale verbinden sich generell mit KI im Bereich der schulischen Bildung?
2. Welche Anbieter und Anwendungen haben sich bereits im Markt positioniert oder etabliert?
3. Welche Herausforderungen und vielleicht auch Risiken stehen den Potenzialen gegenüber und wie kann man damit strategisch umgehen?
Die Deutsche Telekom Stiftung hat die Studie beauftragt und finanziert. Durchgeführt wurde sie vom mmb Institut – Gesellschaft für Medien- und Kompetenzforschung mbH (Dr. Ulrich Schmid, Dr. Berit Blanc, Michael Toepel) unter Mitarbeit von Prof. Dr. Niels Pinkwart (Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz) und Prof. Dr. Hendrik Drachsler (DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation).
Die Untersuchungsergebnisse sollen dazu beitragen, das schulische Lernen mittels intelligenter, adaptiver Systeme zu verbessern und Lernprozesse zu ermöglichen, die den individuellen Fähigkeiten und Bedarfen der Kinder besser entsprechen.
Methodisch verbindet die Studie systematische Recherche und qualitative Inhaltsanalyse anhand eines Kategoriensystems, eine standardisierte Online-Befragung von 40 Expertinnen und Experten (aus Wissenschaft, Forschung und Beratung, öffentlichen Einrichtungen, Regierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft) zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 sowie einem Workshop.
Wichtige Ergebnisse
KI in der schulischen Bildung
Definition KI: Die Autoren und die Autorin halten fest, dass es keine allgemein akzeptierte Definition von KI gibt, die alle relevanten Aspekte enthält. Zudem werde KI heute als Sammelbegriff verwendet, der neben dem großen Forschungsgebiet sowohl Technologien (von Expertensystemen bis hin zum maschinellen Lernen) als auch Systeme und Anwendungen (z.B. autonome Fahrzeuge, smarte Assistenten oder Empfehlungssysteme) bezeichnet.
Angesichts der Strittigkeit von Definitionen und der Breite der Begriffsverwendung wird folgende Bedeutung von KI festgehalten:
„Zum ‚intelligenten‘ Verhalten von Maschinen gehören jedenfalls die Fähigkeiten zur (visuellen) Wahrnehmung, zur Mustererkennung, zur Simulation selbstständigen Lernens, zum Treffen von Entscheidungen und von Vorhersagen, zum eigenständigen Finden von Problemlösungen, zur Sprach- und Gesichtserkennung oder zum (logischen) Schlussfolgern (vgl. de Witt/Pinkwart/Rampelt 2020)."
KI-Anwendungen im schulischen Bildungsbereich
1. ITS = Intelligent Tutoring Systems:
Dabei handelt es sich um intelligente, lernunterstützende Assistenz-Systeme, die menschliche Kommunikations- und Interaktionsformate (z.B. natürliche Sprache, Chatbots) mit Verfahren des Machine Learnings und der Learning Analytics bzw. des Educational Data Minings kombinieren.
2. Machine Learning (ML) und Deep Learning (Teilgebiet des ML) als Treiber für die aktuellen technologischen Entwicklungen:
Hier lernt ein künstliches System aus Beispielen und kann diese nach Beendigung der Lernphase auch verallgemeinern. Dazu bauen Algorithmen beim maschinellen Lernen ein statistisches Modell auf, das auf Trainingsdaten beruht (Erkennen von Mustern und Gesetzmäßigkeiten in den Lerndaten).
3. NLP (Natural Language Processing/Understanding) und ASR (Automatic Speech Recognition):
Diese Anwendungen ermöglichen textliche oder sprachbasierte Dialog- und Interaktionsformen, die an die Qualität standardisierter menschlicher Informationsgespräche heranreichen – und diese an manchen Stellen sogar übertreffen, indem Dialoge und Informationen protokolliert, analysiert und zum Beispiel per E-Mail übermittelt werden können.
4. Automated Assessment/Grading (Benotung), das dem „Supervised Learning“ zugehörig ist:
Hier kann ein Lernalgorithmus die richtige Lösung einer Aufgabe auf Grund markierter Trainingsdaten verlässlich identifizieren und er ist auch in der Lage, dem Lernenden eine entsprechende Rückmeldung bzw. Bewertung zu geben.
5. Chatbots und intelligente multimodale Mensch-Maschine-Interaktion:
Chatbots sind Kommunikationsmittel, die ein Beispiel für die Mensch-Maschine-Interaktion darstellen. Die zentralen Eigenschaften für eine effiziente Kommunikation sind das Bedienkonzept (Softwaretechnik und Ergonomie) und die Schnittstellentechnologie, also die Kommunikationsschnittstelle zwischen Software und Mensch. Die vielfältigen Möglichkeiten der Kommunikation reichen dabei von der Texteingabe bis hin zur Spracherkennung.
6. Learning (Predictive) Analytics und Educational Data Mining (EDM): Unter Learning Analytics versteht man die kontinuierliche Messung und Sammlung, Analyse und Berichterstattung von Daten über Lernende und ihre Aktivitäten zum besseren Verständnis und zur Optimierung des Lernens in den jeweiligen digitalen Lernumgebungen.
7. Adaptive Learning und Recommendation Systeme:
Adaptives Lernen basiert auf intelligenten Lehrmethoden, die es ermöglichen, Lernaufgaben und Ressourcen so maßgeschneidert bereitzustellen, dass diese den individuellen Bedürfnissen (Fähigkeiten, Kompetenzen, Erwartungen etc.) möglichst optimal entsprechen. Basierend auf bestimmten Indikatoren (z.B. Lernstatus, Kompetenzniveau, Testergebnisse, Lernleistungen, Lernziele) werden in adaptiven Lernsettings automatisch Lektionen (z.B. Aufgaben, Tests) angeboten, die den Bedürfnissen des jeweiligen Schülers oder der Schülerin angemessen sind – und zwar im richtigen Schwierigkeitsgrad und in der richtigen Reihenfolge.
Drei Einsatzebenen von KI im schulischen Bildungsbereich
Nach Ansicht der Autorin und der Autoren haben die beschriebenen Technologien heute – in verschiedenen Kombinationen und Varianten – das Potenzial, sämtliche schulischen Handlungsfelder zu durchdringen und zu verändern. Schulen seien komplexe Institutionen, in denen Prozesse der Wissensvermittlung umfassend gestaltet und geplant, organisiert und administriert, kommuniziert und evaluiert werden. Sämtliche Tätigkeitsfelder seien heute stark technologisch geprägt – und damit auch offen für KI-Innovationen.
Im Rahmen der Studie werden deshalb drei Anwendungsfelder bzw. Einsatzebenen unterschieden:
1. Mikro-Ebene des individuellen Lernens und Übens
2. Meso-Ebene des Lehrens, Unterrichtens und Prüfens in Lerngruppen und Klassen
3. Makro-Ebene der Steuerung, Evaluation und Planung von Schulen als Organisation und System
In all diesen Bereichen zeichne sich heute der Einsatz „intelligenter“ Technologien ab, die komplexe, voll- oder teilautonome Steuerungs-, Entscheidungs- und Prognoseprozesse ermöglichen und dadurch sowohl didaktische als auch organisatorische Potenziale erschließen. Die Einsatzmöglichkeiten intelligenter Systeme in der Schule würden somit weit über den individuellen Lernprozess hinausgehen: Auch auf der Ebene der Klasse und Lerngruppe könnten intelligente Anwendungen wie z.B. digitale Assessments und „automated grading“ oder auch Leistungsdatenevaluationen und Empfehlungssysteme neue und manchmal auch direktere Formen des didaktischen Feedbacks geben. Darüber hinaus eröffneten sich auch auf der Ebene der Institution Schule neue Einsatzfelder, z.B. bei der „automatischen“ Generierung von Evaluationen und Berichten für die Schulaufsicht oder von Diagnosen und Prognosen im Bereich des Schulmanagements (z.B. Personal-, Ressourcen- und Raumplanung). Insbesondere in diesem sehr wichtigen schulischen Handlungsbereich könnten erhebliche technologische Effizienz- und Verbesserungspotenziale gehoben werden.
Wichtige Erkenntnisse aus Forschung, Online-Befragung und Workshop
Zu den Anwendungspotenzialen
1. Es wird festgestellt, dass bisher noch keine belastbaren empirischen Studien über ein „besseres“ Lernen ausreichend vorliegen.
Es gebe nur einige wenige KI-basierte Bildungstechnologien, die gut erforscht sind und einen Effektivitätsgewinn in Bezug auf Lernergebnisse zeigen. Diese würden sich aber fast ausschließlich auf die kognitive Dimension des Wissenserwerbs beziehen.
2. Konstatiert wird auch, dass KI-Systeme bisher nur sehr selten aus lerntheoretischer Sicht evaluiert worden sind.
Es habe bis heute nur sehr wenige Versuche gegeben, KI aus der Sicht von Lerntheorien zu analysieren und zu bewerten.
3. Nach Auffassung der Studiendurchführenden besteht noch Untersuchungsbedarf hinsichtlich der Übertragbarkeit von KI-gestützten Bildungstechnologien zwischen unterschiedlichen Bildungssystemen.
Von den insgesamt 49 befragten Expertinnen und Experten hätten drei Viertel (74%) den Einsatz von KI an Schulen grundsätzlich befürwortet, im Workshop aber thematisiert, dass die beschriebenen Forschungslücken hinsichtlich der Evidenz positiver Effekte des KI-Einsatzes beim Lernen ein Hindernis darstellten, um bei der Verwendung von KI in der Schule engagiert voranschreiten zu können. Die Expertinnen und Experten seien sich einig gewesen, dass vor einer flächendeckenden Einführung von KI angewandte Forschung dringend notwendig ist.
4. Durch den Einsatz von KI in der Bildung könne davon ausgegangen werden, dass in Zukunft große summative Assessments zunehmend durch kleinere formative Assessments ersetzt oder verdrängt werden.
Laut Online-Befragung halte es die große Mehrheit (78%) für sinnvoll, Lehrerinnen und Lehrer durch KI-Systeme zu entlasten, um mehr Möglichkeiten für die persönliche Lernbegleitung der Schülerinnen und Schüler zu haben. Auch im Workshop sei die Entlastung und Unterstützung der Lehrkräfte als ein zentrales Ziel benannt worden. Einer automatischen Testgenerierung und -bewertung sei allerdings überwiegend mit Skepsis begegnet worden: Automatisierte Assessments hielten zwar 78% der Befragten für technisch realisierbar, doch nur 57% für wünschenswert. Bei KI-Anwendungen zur administrativen Unterstützung (z.B. Unterrichtsplanung) sowie zur Unterstützung bei der individuellen Förderung seien die Einschätzungen hinsichtlich der technischen Machbarkeit und Wünschbarkeit dagegen mit jeweils 95% sehr ähnlich ausgefallen. Große Skepsis zeigte sich auch bei der Realisierbarkeit von verlässlichen KI-basierten Leistungs- und Erfolgsprognosen sowie beim Einsatz von Robotern als virtuelle Tutoren und Tutorinnen – beides werde auch deutlich weniger gewünscht.
5. Die Autoren und die Autorin gehen davon aus, dass KI neben kognitiven Anwendungsfeldern in der Zukunft auch zur Diagnose von metakognitiven Fähigkeiten eingesetzt wird.
KI-unterstützte Anwendungen würden immer stärker auch zur Diagnose der Aufmerksamkeit und Gesprächsdynamik von Schülerinnen und Schülern beim computergestützten Lernen eingesetzt. Auch die Fähigkeit zu kollaborativem Lernen und Arbeiten sowie zum Verhalten in Teams werde datenanalytisch diagnostizierbar.
6. Ein weiteres Ergebnis ist, dass bei KI-basierten Lernverfahren Emotion und Affekt zunehmend eine Rolle spielen.
Im Bildungstechnologiebereich werde Emotion und Affekt immer wichtiger – technisch getrieben und ermöglicht durch Fortschritte in der KI-basierten Gesten-, Mimik-, Sprach- und Sensordatenanalyse. Diese könnten möglicherweise auch zur Entwicklung von sogenannten Learning Companions führen (Yadegaridehkordi et al. 2019), bedürften aber einer sorgfältigen Beurteilung hinsichtlich der Datennutzung. Dass Videoaufzeichnungen aus dem Unterricht KI-gestützt ausgewertet und daraus automatisch pädagogische Hinweise für Lehrkräfte abgeleitet werden – wie in China durchaus üblich – hielten die Befragten weder technisch (sinnvoll) umsetzbar noch erscheint es ihnen als besonders wünschenswertes und wahrscheinliches Szenario. Gewünscht habe man sich aber KI-basierte Anwendungen, die Lehrerinnen und Lehrer bei der Steuerung kollaborativen Lernens und bei der Lernstandmessung unterstützen können. Für die Lernunterstützung der Schülerinnen und Schüler hätten die Befragten vor allem Potenziale beim personalisierten und selbstregulierten Lernen sowie beim individuellen Üben gesehen.
7. In einigen Unterrichtsfächern wie zum Beispiel Fremdsprachen könne davon ausgegangen werden, dass KI ganz neue Möglichkeiten eröffnet.
Während in einigen Fächern wie z.B. in der Mathematik oder den Naturwissenschaften schon länger mit KI-basierten Bildungstechnologien experimentiert werde und sich hier auch empirische Erfolgsnachweise finden ließen, könne zunehmend auch ein Einfluss von KI-Verfahren im Sprachunterricht beobachtet werden – etwa durch fortgeschrittene Sprach- und Textanalysen, automatische Übersetzungen guter Qualität oder auch Essay-Scoring-Systeme. Es bedürfe jedoch didaktisch kluger Ansätze, um die Möglichkeiten dieser Verfahren zu nutzen und damit den Sprachunterricht deutlich zu verbessern.
8. KI könnte nach Ansicht der Autoren und der Autorin auch als Unterstützung von Lernenden mit kognitiven Defiziten wie Dyslexie, Legasthenie oder Dyskalkulie eingesetzt werden.
Für diese Art der Lernschwächen sehe man große Potenziale durch KI-Verfahren. Hier könnten sowohl Analysen als auch Prognosen sowie Hilfestellungen entwickelt werden. Auch in diesem Bereich werde aber kritisch hinterfragt, ob man Schwächen durch Technik kompensieren und dadurch die Abhängigkeit der Lernenden verstärken sollte, oder es nicht erstrebenswerter sei, Selbst-Kompensationsstrategien zu vermitteln.
9. KI sei auch eine Unterstützungstechnologie für Lernende mit sensorischen oder körperlichen Defiziten.
Je mehr digitale Systeme in Bildungsprozessen zur Anwednung kommen, desto wichtiger sei ein inklusiver Ansatz von Bildungstechnologien, um Nutzungsbarrieren zu vermeiden. KI könne als explizite Assistenzfunktion (z.B. Vorlesen) auch wichtig für Lernende mit sensorischen oder körperlichen Defiziten sein. Bildungstechnologien müssten jedoch mit diesen (oft persönlichen) Assistenzsystemen kompatibel sein. Die Befragungsergebnisse würden den Befund aus der wissenschaftlichen Literatur bestätigen: Zwar hielten fast alle befragten Expertinnen und Experten die KI-basierte Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung für besonders wünschenswert. Gleichwohl sei die Erwartung, dass dieses Szenario technisch realisierbar ist bzw. in den nächsten fünf bis zehn Jahren verwirklicht wird, relativ gering. Hier müssten ethische Fragestellungen dringend stärker berücksichtigt werden.
10. Nach Ansicht der Autoren und der Autorin könne davon ausgegangen werden, dass der hybride Einsatz von Mensch und KI gegenüber rein adaptiven Anwendungen bevorzugt wird.
Adaptive Systeme würden für immer mehr Anwendungen in der Bildung entworfen und eingesetzt. Ihre Wirkung sei aber pädagogisch umstritten und teilweise auch mit dem Risiko verbunden, den Menschen in seiner Autonomie und Freiheit etwas zu „entmündigen“. Neuere Forschung fokussiere sich daher auf hybride Mensch-KI-Ansätze in der Bildung, mithin auf Co-Teaching-Szenarien und eine stärkere Integration von lernfördernden Technologien in den Unterricht. Die theoretische und konzeptuelle Ausgestaltung in diesem Forschungsbereich sei aber noch sehr begrenzt.
11. Es wird angenommen, dass hybride KI-Verfahren rein maschinelle Lernverfahren ablösen werden.
Auch in den KI-Verfahren selbst könne eine Trendwende beobachtet werden: Während „klassische” KI-gestützte Bildungstechnologien regel- und wissensbasiert konzipiert gewesen seien (idealerweise auf Basis psychologischer Theorien wie etwa ACT-R13 als Fundament für tutorielle Systeme), habe sich in den vergangenen Jahren der Fokus auf statistische maschinelle Lernverfahren (Aufstieg Educational Data Mining) verschoben. Da letztere Verfahren zwar gut in der Mustererkennung sind, sich aber nur schwer erklären lassen, setze sich zunehmend der Ansatz von hybriden kognitiven KI-Verfahren durch, die datengetriebene Erkenntnisse mit wissensbasierten Erklärungen verknüpfen.
12. Die Autoren und die Autorin sehen beim Einsatz von KI in der Schulberatung und Unterrichtsentwicklung enormes ungenutztes Potenzial.
Es sei auffällig, dass mit KI in der Schule bislang vorwiegend auf der Lehr-Lern-Ebene experimentiert werde bzw. hier Praxiseinsätze erfolgten. Während KI in vielen öffentlichen und privaten Bereichen auch auf der Makroebene verwendet werde (in produzierenden Unternehmen z.B. zur intelligenten Produktionsplanung), seien entsprechende Ansätze in Bildungssystemen eher rar. Auf universitärer Ebene seien Learning Analytics-Ansätze deutlich weiter verbreitet als in Schulen. Auch für Lehrkräfte biete KI (z.B. über Recommender-Ansätze im Rahmen von digitaler Unterrichtsplanung) Potenzial, das gegenwärtig noch nicht genutzt werde.
Zu den Risiken und Herausforderungen
13. Datenschutz und Datensicherheit
Die Autorin und die Autoren verweisen darauf, dass die Basis aller KI-basierten Anwendungen Daten sind, die heute auf sämtlichen Ebenen des schulischen Handelns in großer Menge entstehen:
- auf der Mikro-Ebene des Lernens mit intelligenter Lernsoftware
- auf der Meso-Ebene der Klassen und des Unterrichts (in Lernplattformen, Bildungs-Clouds etc.) und
- auf der Makro-Ebene des Schulmanagements.
In all diesen Segmenten stelle sich immer wieder die Frage, welche Daten überhaupt gesammelt werden und wie werden diese algorithmisch verarbeitet, analysiert, ausgewertet, transferiert und interpretiert werden. Es wird - auch öffentlich - eine sehr intensive Diskussion über datenethische ACT-R (Adaptive Control of Thought-Rational) geführt. Dabei handelt es sich um eine kognitive Architektur, also ein computergestütztes Modell kognitiver Prozesse. Fragen im Kontext von KI-Entwicklung (z.B. „Erklärbare KI“, KI als „Black-Box“ oder „Biased Algorithms“) verwiesen neben den ethischen auch auf rechtliche, technologische und politische Aspekte, die noch offen bzw. weiterhin umstritten seien.
Fest steht nach Auffassung der Studiendurchführenden, dass diese Aspekte aus Sicht der befragten Expertinnen und Experten gerade im Blick auf das digitale Schulsystem von enormer Wichtigkeit sind und daher – in Bezug auf mögliche Risiken – immer an die erste Stelle gesetzt wurden. Neben dem Gesundheitsbereich gebe es wohl kaum einen ähnlich sensiblen Bereich für den Einsatz „intelligenter“ Systeme wie den der schulischen Bildung. Algorithmisch generierte Empfehlungen oder Prognosen könnten hier gravierende, auch persönliche weitreichende Folgen haben – in positivem wie negativem Sinne. Dabei seien oft gerade dort, wo die Unterstützungspotenziale am höchsten sind, auch die Risiken am größten, zum Beispiel bei automatisierten Bewertungs- und Benotungssystemen von Klassenarbeiten oder Kompetenzanalysen und der damit verbundenen Gefahr von Biased Data oder Biased Algorithms. Darüber hinaus spielten im Bereich der schulischen Bildung auch klassische Datensicherheitsaspekte eine große Rolle, zum Beispiel wie gewährleistet werden könne, dass die in einem System erhobenen Daten nicht auch in andere – eng vernetzte – Anwendungen einbezogen werden, aber auch, welche Anforderungen an Daten-Anonymisierung und Pseudonymisierung im Blick auf die Entwicklung und den Einsatz schulischer KI-Anwendungen unbedingt notwendig seien und wie diese Sicherheitseinstellungen dann auch technologisch zuverlässig umgesetzt werden können.
14. Benachteiligung von Minderheiten
Anknüpfend an die Data-Bias Problematik sei aus wissenschaftlicher Perspektive (Blanchard 2012) speziell darauf hinzuweisen, dass datengetriebene KI-Verfahren insbesondere im Falle von Minderheiten Risiken bergen. Da die Qualität der auf Datenanalysen basierenden Unterstützungsfunktionen von den zur Verfügung stehenden Datenressourcen abhängt, bestehe die Gefahr, dass zum Beispiel Lernende mit Beeinträchtigungen nicht ausreichend in Datensätzen repräsentiert werden und in den KI-Algorithmen als „Outlier“ gelten. Die entsprechenden Schülerinnen und Schüler würden dann vermutlich auch nicht oder nur unzureichend von den adaptiven oder assistiven Funktionen profitieren können. Vor diesem Hintergrund spiele nach Meinung der befragten Expertengruppe die Kompetenzentwicklung auf Seiten der Lehrkräfte und Schulleitungen künftig eine immens wichtige Rolle. Data- und KI-Literacy seien unerlässlich, um die – möglicherweise dauerhaft unvermeidlichen – Risiken KI-basierter Systeme in einem so sensiblen Anwendungsbereich wie der schulischen Bildung einschätzen zu können und vorhandene Tools entsprechend sicher zu nutzen. Damit hänge auch die Problematik zusammen, dass bei Lehrerinnen und Lehrern ebenso wie bei Eltern eher KI-kritische Haltungen überwiegen. Insbesondere in der Pädagogik bestehe aus Sicht von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern demnach ein erhöhter Bedarf an ethischen Referenzsystemen für den Einsatz und die Erforschung von KI.
15. KI befördert überkommene Pädagogik
Schließlich bestehe aus Sicht der wissenschaftlichen Expertinnen und Experten auch das Risiko, dass durch KI gerade diejenigen (fach-)didaktischen Konzepte gefördert werden könnten, die aus pädagogischer Sicht eher kritisch zu bewerten sind. So sei es zum Beispiel nicht unbedingt vorteilhaft, Wissen mittels schriftlicher Kommunikation an Kinder zu vermitteln, die von klein auf in der Lage sind, Sprache perfekt zu gebrauchen (siehe Riener & Willingham 2010). Es könnte also sein, dass KI-Systeme, die auf textlicher Kommunikation basieren, wenig effektive Lernmethoden zum Üben komplexer Fähigkeiten verfolgen. Auch viele der gängigen KI-basierten Lern- und Training-Apps basierten auf tradierten Wissensvermittlungsmodellen (teaching to the test) der Vergangenheit, ebenso Prüfungsapps. Trotz dieser Bedenken würden die Befragten in der vorliegenden Studie immer wieder das Potenzial von KI-Lerntechnologien sehen – insbesondere im Blick auf die mögliche Unterstützung von Kindern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen.
Die größten Chancen werden vor allem beim individualisierten, auf Learning Analytics und Recommendation gestützten Lernen sowie bei smarten adaptiven Selbstlernanwendungen und Apps gesehen. Automatisierte Eignungs- und Leistungsprognosen und Automated Grading polarisierten hingegen und stießen auf deutlich mehr Skepsis, sofern nicht gewährleistet werde, dass die Letztentscheidung immer bei einer Lehrkraft liegt. Pauschal lasse sich anhand der eingesetzten KI-Technologie aber selten eindeutig zwischen Potenzial und Gefahr entscheiden – letztlich komme es auf die konkrete Anwendung und vor allem auf das verfolgte Ziel an. So könne zum Beispiel das Essay Scoring sinnvoll als Entlastung für Lehrkräfte genutzt werden, sei aber ethisch fragwürdig, wenn es bei der Entscheidung über den Zugang zum Studium eingesetzt werde.
Vier strategische Handlungsempfehlungen:
1. Didaktischer Innovationsprozess mit Raum zum Experimentieren:
Angesichts des starken Wettbewerbs mit chinesischen und amerikanischen Lerntechnologieanbietern sollte in Deutschland nicht nur stärker in Forschung und (Produkt-)Entwicklung investiert werden, sondern vor allem auch in die praktische Erprobung und „Erdung“ dieser Technologien im deutschen Schulalltag. Daher lautet die erste Empfehlung dieser Untersuchung, didaktisch orientierte Innovationsprozesse anzuregen und neue Räume und Möglichkeiten für das Experimentieren mit intelligenten Anwendungen zu schaffen. Möglich wäre hier beispielsweise die Einrichtung besonderer „KI-Innovationsschulen“.
2. „Co-Teaching“ und „Assisted Learning“ als Leitbilder etablieren:
Ein zentrales Argument für die Akzeptanz KI-basierter Anwendungen im schulischen Bereich sei deren vorwiegend „assistive“ Funktion. Überall dort, wo KI-gestützte Technologien die Lehrkräfte künftig bei ihren wachsenden Aufgaben wirksam, zuverlässig und datenschutzkonform entlasten – und zugleich aufwandsarm eingesetzt werden können – würden diese absehbar positiv auf- und angenommen. Der zunehmende Lehrkräftemangel werde diese Tendenz noch verstärken. Aus didaktischer Sicht bestehe zudem ein breiter wissenschaftlicher Konsens, dass KI-gestützte Systeme nicht ersetzend, sondern vielmehr ergänzend-begleitend zu Präsenz-Lernsettings einzusetzen sind („Co-Teaching“ und „Assited Learning“ in hybriden Lernarrangements und Flipped Classroom-Settings etc.).
3. Die weitere Entwicklung KI-basierter Anwendungen durch Bereitstellung sicherer Datenressourcen („Data-Lakes“) fördern:
Die Frage der Datennutzung für Entwicklung und Anwendung intelligenter Lösungen spiele die vielleicht wichtigste Rolle. Denn einerseits hingen auch in Zukunft selbstlernende KI-Verfahren im Wesentlichen davon ab, ob ausreichende Datenressourcen für das Machine Learning bereitgestellt werden können. Andererseits würden solche Anwendungen gerade im Schulbereich nur akzeptiert, wenn es dafür verlässliche, sichere und ethisch begründete Verfahren und Regeln gibt. Ein möglicher Weg dorthin könnten sogenannte „Data Lakes“ sein, d.h. die Einrichtung relevanter – jedoch anonymisierter und pseudonymisierter – Test-Datenbestände für die Entwicklung künftiger KI-Algorithmen im EdTech-Bereich.
4. Qualifizierung des Lehrpersonals ausbauen und KI als Bildungsthema im Unterricht etablieren:
Als künftige Basistechnologie sollte KI einerseits dringend in die schulischen Bildungspläne und den Fachunterricht aufgenommen werden, andererseits sollten die Lehrkräfte in ihrer Aus- und Fortbildung dazu befähigt werden, KI-gestützte Lerntechnologien fachdidaktisch sinnvoll anzuwenden und (kritisch) zu reflektieren. Notwendig sei der Aufbau pädagogischer Handlungsfähigkeit im Zeichen einer zunehmenden algorithmischen Durchdringung von Lern- und Bildungsprozessen. Die pädagogischen Kompetenzanforderungen würden vor diesem Hintergrund nicht ab-, sondern vielmehr zunehmen.
Schlussanmerkung:
Die Autorin und die Autoren gehen davon aus, dass in den kommenden Jahren eine deutlich zunehmende Integration von KI-Komponenten in Medien, Werkzeuge und Plattformen für digital unterstütztes Lernen und Lehren in der Schule stattfinden wird - darauf würden die Ergebnisse dieser Trendstudie und der aktuelle wissenschaftliche Diskurs zu den Herausforderungen der KI-Nutzung im schulischen Umfeld verweisen. Neben Einzelapplikationen mit je begrenztem Einsatzbereich (z.B. für den Spracherwerb oder das Schulmanagement) könnten sich zwei technologische Schwerpunkte herausbilden:
- zum einen die intelligente Lerncloud als hochverfügbare Infrastruktur, mit entsprechenden Derivaten auf Landes-, Schulkreis- oder gar Schulebene,
- zum anderen der „Learning Companion“ als permanent zugänglicher persönlicher Lern-Assistent.