Fachpublikation

Integration von Flüchtlingen in Kommunen

Thema

Bildungschancen von Geflüchteten im deutschen Schulsystem

Herausgeberschaft

Wübben Stiftung

Erscheinungsort

Düsseldorf

Erscheinungsjahr

2018

Stiftungsengagement

Wübben Stiftung

Literaturangabe

Wübben Stiftung (Hrsg.): Integration von Flüchtlingen in Kommunen. impaktmagazin (Impulse und Beiträge aus der Wübben Stiftung zur Bildung). Düsseldorf 2018.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Im Mittelpunkt steht die Frage, ob in Deutschland die Integration von Flüchtlingen in die Kommunen gelungen ist. Es soll deutlich werden, was gut funktioniert hat und welche Bereiche noch verbesserungswürdig sind.

In der Publikation werden wichtige Ergebnisse zusammengefasst, die auf der Entwicklungskonferenz „Integration von Flüchtlingen in Kommunen“ des Deutschen Städtetages und der Wübben Stiftung am 30. November 2017 in Hamburg erarbeitet wurden. Auf der Konferenz tauschten sich mehr als 200 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet über Bildungsprojekte und Gelingensfaktoren bei der Integration von jungen Zugewanderten aus. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren Verantwortliche in den Kommunen vor Ort (aus Politik und Verwaltung), freiwillig Engagierte oder wissenschaftlich Interessierte. Einige von ihnen sind auch schon Teil des Programms „impakt integration“ der Wübben Stiftung, die damit 2016 die Basis für ihr operatives Engagement im Themenfeld „berufliche Integration jugendlicher Neuzugewanderter“ gelegt hat. Ziel des Programms ist es, die Entwicklung kommunaler Bildungsstrategien zu befördern: Den kommunalen Verantwortungsträgern soll Unterstützung und Begleitung gegeben werden, damit sie ihre Bildungsstrategien so ausrichten können, dass sich die Bildungs- und Teilhabechancen für Neuzugewanderte verbessern. Am Programm nehmen 15 Kommunen aus vier Bundesländern teil, die mit Hilfe einer eigenen Bildungsstrategie die Integration jugendlicher Neuzugewanderter erfolgreich gestalten möchten. In den Konzepten sollen sowohl die allgemeinen als auch die standortspezifischen Herausforderungen bearbeitet werden.

Um eine entsprechende Strategie nachhaltig und wirkungsorientiert umsetzen zu können, braucht jede Kommune einen Prozess, der auf die spezifischen Belange vor Ort ausgerichtet ist. Dafür soll das Programm einen Rahmen bieten, den die Kommunen entsprechend der eigenen Bedarfe nutzen und gestalten können. Dabei sollen Doppelstrukturen sollen vermieden und Synergien genutzt werden. Einige Best Practice-Beispiele aus dem Programm wurden von Vertreterinnen und Vertretern aus den Kommunen im Laufe der Entwicklungskonferenz vorgestellt.  

Neben den Konferenzergebnissen enthält die Publikation auch

  • ein Interview mit Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, Professor für Politische Soziologie mit den Arbeitsschwerpunkten Bildungs-, Migrations- und Stadtforschung an der FH Münster,
  • einen Beitrag über die Frage, wie regionale Bedingungen die Bildungschancen geflüchteter Kinder und Jugendlicher beeinflussen,
  • einen Überblick über praktische Ansätze bei der Integration von Neuzugewanderten,
  • ein Porträt über den Gründer der SchlaU-Schule.    

Wichtige Ergebnisse

Ein wesentliches Ergebnis war, dass die Kommunen mit den Herausforderungen im Zuge der „Flüchtlingskrise“ 2015  gut umgehen konnten und in der Lage waren, die geflüchteten Menschen kurzfristig aufzunehmen. Dass dies gelingen konnte, sei nicht nur ein Verdienst der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie der kommunalen Verwaltung. Sehr wichtig sei auch das breite zivil- und bürgerschaftliche Engagement vor Ort gewesen. Kritisch wurde gesehen, dass in der Öffentlichkeit oft die negativen Phänomene der Zugewanderten im Fokus stehen, z.B. Ausschreitungen, Kriminalität oder Fälle missglückter Integration. Diese Erscheinungen gehörten zwar auch zur Realität, doch dürfe darüber nicht vergessen werden, dass die Kommunen in den vergangenen Jahren im Bereich der Flüchtlingsintegration sehr viel geleistet haben und erfolgreiche Integration stattgefunden habe. Gelingende Integration sei letztlich als längerfristiger Prozess aufzufassen, der viel Zeit brauche.         

Folgende Faktoren für eine gelingende Integration wurden benannt:

  • Bildung ist aus Sicht der kommunalen Akteure für eine gelingende Integration von herausragender Bedeutung, aber auch Engagement und Sprache spielen eine wichtige Rolle.
  • Beim Thema Flüchtlinge sind die Kommunen sehr unterschiedlich aufgestellt. Kommunen hatten Vorteile bei der Integration von Geflüchteten, wenn sie über eine übergreifende Bildungsstrategie verfügten, weil sie dann besser in der Lage waren, eigene Schwachstellen zu erkennen, Lücken zu schließen und frühzeitig Integrationsmaßnahmen zu starten.
  • Deutlich wurde, dass die Kommunen individuelle und durchaus auch ungewöhnliche Wege einschlagen sollten, um ihre Ziele zu erreichen. 
  • Es ist wichtig, Netzwerke in den Kommunen zu etablieren und sich gemeinsam Handlungs(frei-)räume zu schaffen. Dabei hat sich die Zusammenarbeit von Akteuren aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Handlungsfeldern bewährt.
  • Positiv wirkt sich eine Haltung der Akteure aus, die darauf basiert, sich selbst und anderen Beteiligten etwas zuzutrauen.

Insgesamt wurde deutlich, dass für eine gelingende Integration von Flüchtlingen eine kommunale Gesamtstrategie vorteilhaft ist. Darüber hinaus sollten die Länder und der Bund Masterpläne entwickeln, die dem kommunalen Handeln Orientierung geben, wie und mit welchen Schwerpunkten Integration erfolgen soll. 

Einfluss der regionalen Strukturen auf die individuellen Bildungschancen von jugendlichen Geflüchteten

Zwei Drittel der ca. 300.000 minderjährigen Geflüchteten in Deutschland sind über sechs Jahre alt und damit im schulpflichtigen Alter (Stand 2016). Allein in Nordrhein-Westfalen leben mehr als 25.000 schulpflichtige Geflüchtete (Zahlen ohne unbegleitet reisende Minderjährige). Bisher liegen erst wenige Erkenntnisse zur Bildungsteilhabe geflüchteter Schülerinnen und Schüler vor. In der amtlichen Schulstatistik fehlen die dazu notwendigen Informationen.

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, der sich in seinen Forschungsarbeiten diesem Thema widmet, kam zu folgenden Ergebnissen:

  • Ungleiche Bildungschancen: Zwischen Flüchtlingskindern und deutschen Schülerinnen und Schülern bestehen große Bildungsunterschiede. Allerdings zeigen sich auch große Unterschiede zwischen den einzelnen Nationalitäten der Migrantinnen und Migranten.
  • Besuch des Gymnasiums: Ausländische Kinder und Jugendliche besuchen in Deutschland grundsätzlich seltener das Gymnasium als deutsche Schülerinnen und Schüler. Bei einigen Herkunftsländern ist der Unterschied besonders groß. Während zum Beispiel im Jahr 2014 knapp 43 Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen ein Gymnasium besuchten, waren es unter den libanesischen Kindern nicht einmal 9 Prozent und bei den vietnamesischen Kindern fast 60 Prozent.
  • Verständnis für Migration: Wer die Bildungschancen von Migranten und Migrantinnen verbessern will, muss nach Ansicht von El-Mafaalani zunächst Migration und ihre Auswirkungen verstehen. Die Deutschen würden im Laufe ihres Lebens durchschnittlich 4,5 mal umziehen und dabei meistens nur das Bundesland wechseln. Dagegen sei Migration aus einem Land in ein anderes Land mit hohem biografischen Stress verbunden, der über Jahre oder sogar Jahrzehnte anhalten kann und sowohl Kriegsflüchtlinge als auch Arbeitsmigranten und -migrantinnen betrifft.
  • Identitätskrise und Identitätsstiftendes: Wissenschaftliche Studien zeigten, dass Migrantinnen und Migranten nach dem Verlassen ihrer Heimat tendenziell konservativer werden, um den Verlust der eigenen Identität zu begrenzen. Viele Migrantinnen und Migranten würden durch den Wechsel des Lebensortes rasch in eine persönliche Identitätskrise geraten und als Folge alles Identitätsstiftende konservieren, wie die eigene Sprache, Kultur und Tradition. Zugleich würden sie aber auch eine extrem hohe Motivation entwickeln, sich an das neue Leben anzupassen und im neuen Land erfolgreich zu sein. Besonders die sogenannte erste Migrantengeneration zeige hier eine überdurchschnittliche Motivation.
  • Widerspruch zwischen Anpassung und Loyalität: Die zweite Generation der Migrantinnen und Migranten kämpfe mit dem gleichen Widerspruch zwischen Anpassung an das neue Land und Loyalität zur ursprünglichen Heimat. Zusätzlich wäre sie noch mit den unerfüllten Hoffnungen und Erwartungen der Elterngeneration konfrontiert. Von diesem Dilemma würden bereits Kinder im Grundschulalter berichten: Sie sollen etwas schaffen, was die Eltern nicht geschafft haben, und sie sollen möglichst erfolgreich werden, aber sich weiterhin an den Eltern orientieren. Die Deutschen würden ebenfalls widersprüchliche Signale aussenden: Auf der einen Seite signalisierten sie, dass die Migrantinnen und Migranten nicht „zu uns“ gehören, auf der anderen Seite werde die Erwartung geäußert, dass sie sich der deutschen Gesellschaft anpassen.
  • Erhöhtes Förderschulrisiko: Vor diesem Hintergrund hätten Flüchtlingskinder keinen leichten Start in die deutsche Gesellschaft. Insbesondere das deutsche Bildungssystem mache es ihnen schwer. In den Gymnasien seien sie deutlich unterrepräsentiert, in den Förderschulen überrepräsentiert. Deutlich werde, dass ausländische Schülerinnen und Schüler in Deutschland insgesamt ein höheres Risiko als deutsche Schülerinnen und Schüler haben, eine Förderschule zu besuchen. Bei der Gruppe der geflüchteten Kinder und Jugendlichen zeigten sich auch hier wieder deutliche herkunftsabhängige Unterschiede: Im Vergleich zu deutschen Schülerinnen und Schülern war das Förderschulrisiko in den letzten zehn Jahren für vietnamesische Schülerinnen und Schüler nur halb so groß, für Schülerinnen und Schüler aus Syrien fast dreimal so hoch und für Kinder aus dem Libanon sogar mehr als viermal so hoch.
  • Anderer Förderbedarf: Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund hätten zwar einen besonderen Förderbedarf, doch beziehe sich dieser vor allem auf den Spracherwerb, die schulische und gesellschaftliche Integration sowie die Aufarbeitung der persönlichen Migrationsgeschichte. In Bezug auf Bildung bedeute die Förderschule für die meisten Schülerinnen und Schüler eine Sackgasse und biete die schlechtesten Bildungsperspektiven, da drei von vier Jugendlichen auf der Förderschule keinen Bildungsabschluss erzielen.
  • Bundesländer und Regionen bestimmen über Bildungschancen: Das individuelle Risiko für einen Förderschulbesuch bzw. die Chance auf einen Gymnasialbesuch sei in Deutschland nicht nur eine Frage der persönlichen Leistung und Kompetenzen. Auch der Wohnort spiele dabei eine wichtige Rolle. Ein wichtiger Grund liege im föderalen Bildungssystem: In manchen Bundesländern (wie Mecklenburg-Vorpommern) werden Förderschulen abgebaut oder sollen langfristig ganz abgeschafft werden, während in anderen Bundesländern über die Jahre Alternativen zum Gymnasium entwickelt wurden, wie zum Beispiel die Stadtteilschulen in Hamburg oder die Sekundarschulen in Nordrhein-Westfalen (letztere haben zwar keine Oberstufe, orientieren sich aber an gymnasialen Standards).
  • Regionale Diversität im Bildungsbereich: Die schulischen Möglichkeiten der Flüchtlingskinder richten sich nach dem Bundesland, in dem sie leben. Nach den Ergebnissen einer Studie (2017) von Aladin El-Mafaalani zusammen mit Thomas Kemper von der Universität Wuppertal wurde deutlich, dass es in Bezug auf den Bildungserfolg signifikante regionale Unterschiede gibt. Diese könnten schon innerhalb eines Bundeslandes größer sein als im Ländervergleich, obwohl die Schülerinnen und Schüler im gleichen Bildungssystem lernen. Dies zeige das Beispiel der Gymnasialchancen: In einigen Ruhrgebietsstädten wie Essen, Gelsenkirchen, Herne oder Oberhausen haben syrische Kinder und Jugendliche heute die gleichen Chancen auf einen Gymnasialbesuch wie deutsche Schülerinnen und Schüler (über 40 Prozent). In vielen anderen (insbesondere ländlichen) Kommunen schaffen es hingegen nur weniger als 11 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Syrien auf ein Gymnasium. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen können diese Unterschiede nicht allein auf sozioökonomische oder kulturelle Hintergründe zurückgeführt werden. Über den Bildungsweg und den Bildungserfolg geflüchteter Kinder und Jugendlicher würden somit auch Faktoren entscheiden, die in den Regionen selbst begründet liegen.
  • Migration in Stadt und Land: Es könne nicht pauschal gesagt werden, ob Geflüchtete die besseren bzw. schlechteren Bildungschancen in der Stadt oder auf dem Land haben. Die aktuelle Datenlage liefere dazu keine allgemeingültigen Zusammenhänge. Doch würden sich Stadt und Land in einem wesentlichen Punkt unterscheiden, der zwangsläufig über die migrantische Bildungsteilhabe entscheidet: In Städten habe schon immer Migration stattgefunden, während ländliche Regionen durch mangelnde Migration gekennzeichnet sind. Dies habe Einfluss darauf, wie an einem Ort mit Migration umgegangen wird und wie Integration funktionieren kann.  
  • Auswirkungen auf die Bildungschancen in einer Kommune: Für Geflüchtete würden sich daraus teils deutliche Unterschiede in Bezug auf Versorgung, Beschulung und Integration ergeben. Dies habe wiederum Auswirkungen auf die Bildungschancen in einer Kommune. Zu den benachteiligten Regionen gehören in diesem Kontext typischerweise die strukturschwachen ländlichen Räume sowie kleine Städte und Gemeinden. Wo der Ausländeranteil bisher bei 2 bis 3 Prozent lag, würden die notwendigen Ressourcen und nachhaltigen Strukturen für eine bedarfsgerechte Integrationsarbeit fehlen. Wenn dann zu einer bereits schwierigen kommunalen Finanzlage noch die Aufgabe hinzukomme, geflüchtete Kinder und Jugendliche in das Schulsystem zu integrieren, könne sich dadurch die ohnehin schon prekäre Situation an einem Ort dramatisch verstärken.
  • Bildungschancen steigen mit Ausländeranteil: Studien zeigten, dass sich schulpflichtige Geflüchtete nicht etwa dort besser integrieren lassen, wo es bereits viele Geflüchtete gibt – weder auf dem Land noch in der Stadt. Allerdings wirke sich der grundsätzliche Ausländeranteil in einer Kommune auf den Bildungserfolg ausländischer Schülerinnen und Schüler aus: Je mehr Migranten und Migrantinnen an einem Ort leben, desto größer sei ihre Chance auf einen Gymnasialbesuch und desto geringer sei ihr individuelles Förder- und Hauptschulrisiko. Dies sei darauf zurückzuführen, dass Regionen mit einem hohen Ausländeranteil erfahrener in Unterstützungs- und Integrationsfragen sind und ihre kommunalen und schulischen Strukturen schon länger (und besser) auf die Bedürfnisse bzw. Bedarfe ausländischer Familien ausrichten konnten. In diesen Kommunen gebe es auch weniger Vorurteile und rassistische Tendenzen als an Orten, in denen nur wenige Ausländerinnen und Ausländer leben. Je stärker eine Nationalität in einer Kommune vertreten ist, um so sichtbarer und bedeutender sei sie für Politik und Zivilgesellschaft. Sie habe in der Regel gut aufgestellte Migrantenselbstorganisationen, werde eher gehört und in Folge auch besser gefördert als Minderheiten anderer Nationen.
  • Gute Sozialstruktur und Migrantinnen und Migranten: Einer der wichtigen regionalen Faktoren in einer Kommune ist die Sozialstruktur ihrer Bürgerinnen und Bürger. Zunächst sei ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen individuellem Bildungserfolg und sozialer Herkunft festzustellen: Sozial benachteiligte Kinder hätten weltweit schlechtere Bildungschancen. Bisher gebe es aber wenige Erkenntnisse darüber, welchen Einfluss die kommunale Sozialstruktur auf die Bildungschancen geflüchteter Schülerinnen und Schüler hat – obwohl sich hier für die Bildungswissenschaft interessante Fragestellungen ergeben würden: Wenn Flüchtlingskinder zum Beispiel in einem bildungsbürgerlich geprägten Ort zur Schule gehen, stünden sie in direkter Konkurrenz zu den Kindern und Jugendlichen aus den dortigen Haushalten. Dies führe dazu, dass ihre Kompetenzen dann weniger an einheitlichen Standards als an den Kompetenzen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler gemessen werden. Die schulischen Leistungsanforderungen lägen dann höher als in strukturschwachen Regionen, was den Zugang zu höheren Schulformen erschweren oder sogar ganz verhindern könne.
  • Einfluss strukureller Rahmenbedingungen: Es gibt Flüchtlingsfamilien, die zwar den gleichen Migrationshintergrund haben (weil sie zu Beispiel aus demselben Ort stammen und aus denselben Gründen geflohen sind, deren Alltag in Deutschland sich aber eklatant unterscheidet. Auch wenn ihre Wohnorte nur wenige Kilometer voneinander entfernt lagen, schienen die Kinder mit Fluchthintergrund in Bezug auf Teilhabe- und Bildungschancen in verschiedenen Ländern zu leben. Dies hat nach Ansicht von El-Mafaalani allerdings weniger mit dem Bildungssystem zu tun als mit den strukturellen Rahmenbedingungen in über 11.000 bundesdeutschen Kommunen. An manchen Orten in Deutschland entscheide schon ein Busfahrplan über die Bildungsmöglichkeiten und Integrationschancen: Wenn zum Beispiel nur zwei oder drei Mal am Tag ein Bus fährt, könnten Geflüchtete die Bildungsinstitutionen im Umfeld schlichtweg nicht erreichen. Dies sei nur einer von zahlreichen Aspekten, der über Teilhabe und Bildungserfolg junger Migranten und Migrantinnen entscheidet. Neben dem öffentlichen Nahverkehr spielten auch andere regionale Infrastrukturbedingungen eine Rolle, so zum Beispiel die Unterbringungs- und Wohnsituation, medizinische und psychologische Versorgung, Hilfe und Beratung durch zivilgesellschaftliche Initiativen, Verfügbarkeit von Dolmetschern und Sprachlehrkräften, Qualität und Quantität der Bildungsangebote, Freizeitangebote usw. Nach El-Mafaalani reicht es deshalb nicht aus, mehr Mittel in Bildung zu investieren.

Wenn in Bildung investiert werde, könne auch nur etwas im Bereich Bildung geändert werden. Dann könnten aber zum Beispiel nicht die möglichen Folgen von Bildungsexpansion und besserer Bildung berücksichtigt werden, die durchaus negativ sein könnten. So seien zum Beispiel in einen der ärmsten Stadtteile in Nordrhein-Westfalen große Fördersummen in Bildung investiert worden, was vor Ort zwar die Bildung verbesserte, die Lebenssituation aber verschlechterte. El-Mafaalani verdeutlicht, dass durch die Bildungsinvestitionen in anderen Bereichen eine Negativentwicklung in Gang gesetzt wurde: Die Menschen mit besserer Bildung und besseren Abschlüssen seien weggezogen, Wohnraum sei überproportional freigeworden, die Fluktuation im Stadtteil habe zugenommen, die Mieten seien gefallen, was immer mehr sozial benachteiligte Menschen anzog. Schließlich sei die Situation so schlecht geworden, dass auch die Lehrkräfte den Ort verließen und wegzogen.

Was können Kommunen tun?

Wer Bildung in der Kommune fördern und zu mehr Bildungsgerechtigkeit vor Ort beitragen will, müsse Kommune als Ganzes – und nicht nur den Bildungsbereich – im Blick haben. Dies ist nach El-Mafaalani eine Grundvoraussetzung. Kommunal- und Bildungsakteure müssten aber auch die richtigen Fragen stellen und mit den richtigen Erwartungen an den Start gehen: Sie müssten sich genau überlegen, was sie tun und was sie erreichen wollen und woran sie erkennen, welche Maßnahmen wirksam sind. Nur so könnten wirksame regionale Strategien bzw. Lösungen entwickelt und umgesetzt werden. Kommunen müssten auch den Mut haben, sich mit vergleichbaren bzw. ähnlich strukturierten Kommunen zu messen und sich mit ihnen über ihre Erfahrungen auszutauschen. Es sei wenig zielführend, wenn sich eine Großstadt mit dem ländlichen Nachbarn oder dem Bundeslanddurchschnitt vergleicht, weil dadurch keine Aussagen über den tatsächlichen Bildungs- bzw. Integrationserfolg vor Ort getroffen werden können. Förderlich und relevant sei nur der Vergleich mit einer Kommune, die über eine ähnliche Infrastruktur und Wirtschaftsstärke sowie einen vergleichbaren Ausländeranteil verfügt. Erst dann ließen sich Erfolge und Defizite in einer Kommune bestimmen. Für kommunale Entscheider und Entscheiderinnen bedeute das, gegenüber sich selbst und gegenüber den Menschen vor Ort ehrlich zu sein und kein kommunales Greenwashing zu betreiben. Ganz entscheidend für den Integrationserfolg sei auch intensive Kooperation.

Festzustellen sei, dass es bei der Intgeration der über 200.000 schulpflichtigen Flüchtlingskinder in Deutschland bundesweit noch viel Entwicklungsbedarf gibt. Ihre Bildungssituation habe sich in den letzten zehn Jahren zwar grundsätzlich verbessert: So sei zum Beispiel das Förderschulrisiko für Schülerinnen und Schüler fast aller Herkunftsländer tendenziell gesunken und die Chance auf einen Gymnasialbesuch habe sich für viele Nationalitäten erhöht. Dies dürfe jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bildungsbeteiligung und Bildungschancen von ausländischen Kindern und Jugendlichen – und hier speziell den Geflüchteten – immer noch deutlich geringer seien als bei deutschen Schülerinnen und Schülern.