Studie mit Handlungsempfehlungen

Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht

Thema

Umbruch im Kinder- und Jugendsport

Herausgeberschaft

Werner Schmidt/Nils Neuber/Thomas Rauschenbach/Hans Peter Brandl-Bredenbeck/Jessica Süßenbach/Christoph Breuer

Erscheinungsort

Essen

Erscheinungsjahr

2015

Stiftungsengagement

Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung

Literaturangabe

Werner Schmidt/Nils Neuber/Thomas Rauschenbach/Hans Brandl-Bredenbeck/Jessica Süßenbach/Christoph Breuer (Hrsg.): Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Kinder- und Jugendsport im Umbruch. Essen 2015.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass Bewegung, Sport und Spiel schon immer zum Alltag von Kindern und Jugendlichen gehören, sowohl in der Schule wie auch in der Freizeit. In den letzten Jahren sind jedoch Veränderungen beim Zugang zum Sport und bei den Formen des ausgeübten Sports festzustellen.

Hier setzt der Dritte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht an, der von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung initiiert wurde. Unter dem Schwerpunktthema „Kinder- und Jugendsport im Umbruch“ stellen Expertinnen und Experten aus Sportwissenschaft, Pädagogik, Sportmedizin und Sportsoziologie dar, welche Ursachen und Auswirkungen die aktuelle Umbruchsituation im Kinder- und Jugendsport hat. Auch werden Handlungsempfehlungen für Politik, Verbände, Vereine und Schulen formuliert. Mit diesem Bericht wird die Reihe der Deutschen Kinder- und Jugendsportberichte fortgesetzt. Der erste Bericht 2003 gab einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand im Bereich Kinder- und Jugendsport, der zweite Bericht 2008 widmete sich dem Schwerpunktthema Kindheit.

Der vorliegende dritte Bericht wurde verfasst von Prof. Dr. Werner Schmidt (Universität Duisburg-Essen), der die Gesamtleitung hatte, sowie Prof. Dr. Nils Neuber (Universität Münster), Prof. Dr. Thomas Rauschenbach (Deutsches Jugendinstitut), Prof. Dr. Hans Peter Brandl-Bredenbeck (Universität Augsburg), Prof. Dr. Jessica Süßenbach (heute Leuphana Universität Lüneburg), Prof. Dr. Christoph Breuer (Deutsche Sporthochschule Köln).

Wichtige Ergebnisse

Deutlich wird ein Wandel des Sportengagements bei Heranwachsenden, der zum einen auf gesellschaftliche Veränderungen, zum anderen auf sportinterne Entwicklungen zurückzuführen ist.

Es zeigt sich, dass Sport nach wie vor das beliebteste Unterrichtsfach in der Schule und die beliebteste Freizeitaktivität von Kindern und Jugendlichen ist. In sportbezogenen Hobbys können sie in besonderem Maß ihr Bedürfnis nach Anerkennung, Gemeinschaft und einem starken Selbstwertgefühl erfüllen.

Durch Veränderungen im Bildungswesen – wie die Etablierung von Ganztagsschulen und die Verkürzung der Gymnasialschulzeit auf acht Jahre (G8) – verbringen die Kinder jedoch mehr Zeit als früher in der Schule und am Schreibtisch zuhause. Deshalb sei es für Heranwachsende nicht mehr so leicht, nachmittags im Verein sportlichen Aktivitäten nachzugehen, so die Autorinnen und Autoren der Studie. In der Folge zeige sich ein Bewegungsmangel bei vielen Kindern und Jugendlichen, der mit der Gefahr von gesundheitlichen Kurz- und Langzeitfolgen verbunden ist. Als Ziel wird formuliert, Bewegung, Sport und Spiel nicht weiter zu reduzieren, sondern vielmehr verstärkt in den Tagesablauf der Schülerinnen und Schüler zu integrieren.

Um den Risiken zu geringer Bewegung entgegenzuwirken, kooperieren vor allem Ganztagsschulen bereits häufig mit Sportvereinen, sodass ein Angebot von Schulsport und Vereinstraining entsteht. Etwa jedes dritte Ganztagsangebot ist ein Sportangebot. Doch zeigen Analysen, dass die Zusammenarbeit von Schule und Vereinen noch verbesserungswürdig ist.

Im Bericht wird auch deutlich, wie soziale Ungleichheiten im Sport ihren Ausdruck finden. Fast jeder dritte Heranwachsende stammt aus einer Familie, die von Armut bedroht ist, in der die Eltern arbeitslos sind oder keine ausreichenden Schulabschlüsse besitzen. Diese Kinder sind nicht nur materiellen Einschränkungen unterworfen, sondern haben auch geringere Teilhabechancen an Bildung, Gesundheitsfürsorge und kulturellen Angeboten. Dabei zeigt sich die wichtige Rolle der Kinder- und Jugendhilfe, die auf zweifache Weise auf die Kinder und Jugendlichen einwirkt: zum einen als eine Sozialisation für den Sport, zum anderen als Sozialisation durch den Sport. Das Gemeinschaftserlebnis im Sport animiere die Kinder und Jugendlichen zum Mitmachen, die Kontakt zu Gleichaltrigen aufbauen und ihr Selbstwertgefühl stärken können, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Betrachtet wird im Bericht auch das multikulturelle Miteinander im Sport. Sport habe Integrationspotenzial, doch sei Integration durch Sport kein Automatismus, lautet das Resümee. Über Sport könnten Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund gut erreicht werden, auch zeige sich, dass bereits Kleinkinder von bewegungsbezogener Sprachförderung profitieren und leichter die deutsche Sprache erlernen können. Allerdings fehle es im Sport noch an zielgerichteten pädagogischen Konzepten für Integrationsarbeit, die einen erfolgreichen Integrationsprozess befördern können. Um die erforderlichen pädagogischen Konzepte zu erarbeiten und erfolgreich umzusetzen, müssten Sportvereine und Migrantenorganisationen künftig verstärkt zusammenarbeiten. Zudem sollte der organisierte Sport noch aktiver, früher und mit niedrigschwelligen, lokalen Angeboten auf die Familien zugehen.

Meist wird bereits in der Kindheit oder Pubertät der Grundstein für eine Sportkarriere an der internationalen Spitze gelegt. Doch stelle der Leistungssport im Kindes- und Jugendalter schon früh hohe, oft zu hohe Anforderungen an die Sporttreibenden – im Hinblick auf Trainingsdauer und psychische und physische Dauerbelastung. Die hohe Zahl an Trainingsstunden muss dann mit einer hohen Zahl an Schulstunden verbunden werden. Jugendliche, die Leistungssport betreiben, müssten deshalb über einen langen Zeitraum erhebliche Überbelastungen tragen, insbesondere bei bestimmten Sportarten. Sie würden häufig körperliche und psychische Probleme ausblenden, Essstörungen seien bei ihnen überproportional häufig zu finden. Es stelle sich daher die grundsätzliche Frage, ob die Anforderungen des Leistungssports an Kinder und Jugendliche in der jetzigen Form noch verantwortbar sind.

Thematisiert wird auch sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Sport. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern, dass sich der organisierte Sport der Problematik zukünftig intensiver als bisher annimmt und eine „Kultur der Achtsamkeit“ im Sport fördert. Insbesondere müssten diejenigen Personen, die mit Heranwachsenden im Sport zu tun haben, besser qualifiziert werden. Deshalb sollten wirkungsvolle Umgangsformen mit dem Problem der sexualisierten Gewalt fester Bestandteil der Aus- und Fortbildung von Übungsleiterinnen und Übungsleitern, Trainerinnen und Trainern sowie Verantwortlichen in Vereinen und Verbänden werden.

Trendsport ist in der Jugendszene besonders populär und umfasst eine Vielfalt an Sportarten. Zentrale Kennzeichen sind ständiges In-Bewegung-Sein, eigenwillige Ausdrucksformen, der Hang zur Selbstinszenierung und permanente Erlebnissuche – offline wie online – sowie der multimediale Austausch mit Gleichgesinnten. Zu jeder Trendsportart gehört eine Szene mit eigenen Ritualen und Bedeutungen, eigenem Stil und eigener Sprache. Dadurch unterscheidet sich Trendsport grundlegend von den herkömmlichen, historisch gewachsenen Sportszenen.

Die Autorinnen und Autoren des Berichts konstatieren, dass der deutsche Kinder- und Jugendsport vor einer paradoxen Situation steht: Obwohl sich die Sportszenen weiter ausdifferenzieren und immer neue Sportangebote hinzukommen, würden Kinder und Jugendliche immer stärker unter Bewegungsmangel leiden, verursacht durch häufigeres und längeres Sitzen im Unterricht und an den Hausaufgaben bei gleichzeitiger Reduzierung des Sportunterrichts in der Schule. In der Folge seien gesundheitliche Probleme bei den Kindern und Jugendlichen festzustellen, wie Koordinationsstörungen, Haltungsschäden und Übergewicht. Hier wäre es wichtig, dass Schule, Vereine und Politik gemeinsam Lösungen entwickeln.

Der Blick auf andere Länder zeigt Versuche, auf die Veränderungen im Kinder- und Jugendsport zu reagieren. So hat zum Beispiel Norwegen die „Kinderrechte des Sports“ eingeführt, die die Verbände und Vereine auf einen besonders achtsamen Umgang mit Heranwachsenden verpflichten. Dazu gehören unter anderem ein sicheres Trainingsmilieu, die Sorge um das Wohlbefinden der Kinder gemäß ihrem Alter und ihrer körperlich-seelischen Entwicklung, ein Mitspracherecht und Wahlfreiheit der Kinder sowie die Relativierung der Bedeutung von wettkampfmäßig betriebenem Sport. Viele Expertinnen und Experten sehen in dem norwegischen Modell einen Ansatz, der auch auf Deutschland übertragen werden könnte.

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