Studie

Das Drehtürmodell in der schulischen Begabtenförderung

Thema

Begabtenförderung an Schulen

Herausgeberschaft

Karg-Stiftung

Autoren/Autorinnen

Silvia Greiten

Erscheinungsort

Frankfurt am Main

Erscheinungsjahr

2016

Stiftungsengagement

Karg-Stiftung

Literaturangabe

Silvia Greiten (Hrsg.): Das Drehtürmodell in der schulischen Begabtenförderung. Studienergebnisse und Praxiseinblicke aus Nordrhein-Westfalen. Karg Hefte 09 – Beiträge zur Begabtenförderung und Begabtenforschung. Frankfurt am Main 2016.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Modelle zur Begabtenförderung sollten laut der „Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“ der Kultusministerkonferenz (KMK) 2015 einen hohen Stellenwert im Schulsystem haben: Demnach sollte es ein zentrales Ziel sein, optimale Lernbedingungen für Schülerinnen und Schüler mit hohem Potenzial zu schaffen. Es müssten Konzepte und Angebote entwickelt werden, die es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ihre Potenziale voll auszuschöpfen und sich ihren Stärken und Fähigkeiten gemäß zu entfalten. Dazu gehören auch Freiräume für selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Lernen.

Ausgangspunkt der von Dr. Silvia Greiten (Universität Siegen) verfassten Publikation ist, dass das Drehtürmodell nach dem Erziehungspsychologen Joseph Renzulli solche Maßnahmen ermöglicht und einen wichtigen Stellenwert bei der Förderung besonders begabter Kinder und Jugendlicher einnimmt. Das Drehtürmodell meint im Schulkontext, vergleichsweise vielen Schülerinnen und Schülern durch gezielte organisatorische Strukturen die Möglichkeit zu geben, neben dem regulären Unterricht zusätzliche Angebote wahrzunehmen, um so ihren Interessen besser gerecht zu werden und ihre individuellen Potenziale entfalten zu können.

Hintergrund der Publikation war eine Tagung des Netzwerks Hochbegabtenförderung Nordrhein-Westfalen im Jahr 2013, das vom Schulministerium Nordrhein-Westfalen in Kooperation mit der Karg-Stiftung etabliert wurde. Dabei zeigte sich, dass das Drehtürmodell in den Programmen zur Begabungs- und Begabtenförderung eine wichtige Rolle spielt, aber auf sehr verschiedene Weise interpretiert und umgesetzt wird.

Im Heft wird zunächst das Ursprungsmodell und seine Weiterentwicklung vorgestellt. Anschließend wird auf die verschiedenen Umsetzungsformen des Drehtürmodells an Schulen in Nordrhein-Westfalen eingegangen. Basis der Studie war eine Befragung von 42 Schulen in Nordrhein-Westfalen (32 Gymnasien, drei Gesamtschulen, sieben Grundschulen) zu den umgesetzten Formen von Drehtürmodellen. Aus diesen Modellen wurden dann sechs Grundtypen herausgearbeitet.

Wichtige Ergebnisse

Idee und Geschichte des Drehtürmodells

Die Grundidee des Drehtürmodells besteht darin, besonders begabte Schülerinnen und Schüler innerhalb des schulischen Systems zu fördern. Joseph Renzulli entwickelte zunächst das Triad Enrichment Model, mit dem individualisiertes Lernen unterstützt und Underachievement verhindert werden sollte. Renzulli verstand individualisiertes Lernen als Lernprozess, der nicht nur das Lerntempo, sondern auch das Anspruchsniveau der Lerninhalte, das Maß der Selbstständigkeit und die Lernform (zunehmender Projektcharakter) auf die Interessen und Fähigkeiten des Einzelnen abstimmen sollte.

Das Modell zielt darauf, die Begabungsentfaltung in verschiedenen Stufen zu fördern und ist somit für alle Schülerinnen und Schüler geeignet, doch können besonders Begabte damit besonders weit voranschreiten. Das Selbstverständnis der Lernenden als Fragende, Forschende und Entdeckende soll den Zugang zur Begabungsentfaltung eröffnen. Im Lernprozess soll nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die kreativ-künstlerische Herangehensweise zur Geltung kommen.

Renzulli sah im herkömmlichen Klassenunterricht zu wenig Entfaltungsmöglichkeiten für die Begabungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Daraus leitete er die Notwendigkeit von Enrichmentprogrammen ab (wörtlich: Programme der „Anreicherung“). Für die Schülerinnen und Schüler sollten Möglichkeiten des individualisierten Lernens geschaffen werden, die das reguläre Curriculum ergänzen und den spezifischen Interessen und bevorzugten Lernstilen der Lernenden gerecht werden, etwa durch die Wahlfreiheit des Themas und verschiedene Lernsettings. Enrichmentprogramme in diesem Sinne zielen darauf, komplexes Lernen, nachhaltige Endeckerlust und hohe Leistungen zu fördern. Sie werden in drei aufeinander aufbauende Typen unterteilt (Typ I bis III). Typ III unterstützt insbesondere Hochbegabungen und Höchstleistungen.

Renzulli fügte dem Triad Enrichment Model später das Drehtürmodell (Revolving Door Identification Model) hinzu, das die Organisationsstruktur beschreibt, mit der innerhalb des Schulsystems ein Förderkonzept für Hochbegabte und Talentierte implementiert werden kann: Schülerinnen und Schüler verlassen für eine bestimmte Zeit den regulären Unterricht, um in einem Ressourcenraum mit vielfältigen Materialien und unter Anleitung von geschulten Lehrpersonen eigenständig an Themen zu arbeiten. So soll ein flexibles System geschaffen werden, in dem die Schülerinnen und Schüler während der Woche in unterschiedlichen Zeitfenstern, Enrichmenttypen, verschiedenen Gruppierungen oder einzeln arbeiten können.

Das Modell grenzt sich von Ansätzen ab, die etwa fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler (IQ mehr als 125) durch einen Intelligenztest auswählen, um diese kleine Gruppe dann zur befristeten Teilnahme an speziellen Programmen berechtigen. Das Drehtürmodell sieht dagegen die Bildung eines Talentpools vor, der 15 bis 25 Prozent eines Jahrgangs umfasst und den ausgewählten Schülerinnen und Schülern individuelle und flexible Zeitfenster anbietet, in denen sie im Ressourcenraum an einem Thema arbeiten können. Dadurch können mehr Kinder und Jugendliche profitieren und ihre Erfahrungen auch in den Klassenraum Eingang finden.

Die Nomination für den Talentpool wird über zwei Wege vorgenommen: erstens über Basiskriterien (Nominationen von Lehrpersonen zum Beispiel zu den Bereichen Lernen, Motivation oder Kreativität, Ergebnisse von Fähigkeitstests), zweitens über alternative Wege (Nomination zum Beispiel durch andere oder sich selbst, spezielle Eignungstests), bei denen eine Kommission über die Aufnahme entscheidet. So können Schülerinnen und Schüler über viele verschiedene Zugänge in den Talentpool gelangen. Darüber hinaus werden umfangreiche Informationen zu den Leistungen und Interessen über die nominierten Kinder und Jugendlichen in der Klasse und bei der Arbeit im Ressourcenraum erhoben, um fundiert über eine Teilnahme an fortschreitenden weiterführenden Angeboten entscheiden zu können.

Das Drehtürmodell wurde später zum Schoolwide Enrichment Model (SEM) weiterentwickelt, das im Zentrum eines begabungsfördernden Schulentwicklungskonzepts steht und den bisherigen Ansatz erweitert und systematisiert. In Forschungsarbeiten wurde herausgearbeitet, dass Schülerinnen und Schüler beim Enrichmentansatz ihre Begabungen sehr gut entwickeln können, zum Beispiel zeigen sich positive Entwicklungen im Hinblick auf Leistungen und Lernverhalten sowie auf die Entwicklung von Kreativität, zugleich wird eine Reduktion von Underachievement deutlich. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland ist das Enrichment Triad Model und die Organisationsstruktur „Drehtür“ Bestandteil der Begabtenförderung.

Typen von Drehtürmodellen in Nordrhein-Westfalen

Nach den Ergebnissen der Befragung von Schulen werden in Nordrhein-Westfalen verschiedene Konzeptionen von Drehtürmodellen umgesetzt, die in sechs Typen unterschieden werden können:

  • Typ 1: Teilnahme am regulären Unterricht eines anderen Jahrgangs (höhere Klasse: Drehtür nach oben; untere Klasse: Drehtür nach unten)
  • Typ 2: Teilnahme am Unterricht des gleichen Jahrgangs, aber in einer anderen Lerngruppe (zum Beispiel doppeltes Sprachenlernen)
  • Typ 3: gezielte Wahl von inhaltlich definierten Drehtürprogrammen (zum Beispiel fachbezogene Erweiterungs- oder Vertiefungsprojekte)
  • Typ 4: Kooperation nach außen (zum Beispiel Schüler-Unis, Kooperationen mit anderen Schulen, einem Unternehmen, einem regionalen Netzwerk oder externen „Dozenten“)
  • Typ 5: Variationen des Forder-Förder-Projektes (zum Beispiel mit Unterstützung von Studierenden, Lernpaten) mit Präsentation
  • Typ 6: freie Wahl, selbstständige Projektarbeit, individuelle Gestaltung ohne definierte Präsentation

Empfehlungen für Schulen zur Einführung des Drehtürmodells

Das Drehtürmodell ist nach den Ergebnissen der Studie für alle Schulen geeignet, um auf dieser Basis ein eigenes Konzept zu entwickeln und umzusetzen. Dazu formuliert die Autorin Empfehlungen, unter anderem:

  1. Bei der Entwicklung eines Konzepts sollten die Ziele, Organisationsstrukturen und Personalsituation vor Ort berücksichtigt werden. Zentral sei die Auseinandersetzung mit dem Thema Begabungs- und Begabtenförderung.
  2. Es bedürfe der Entwicklung einer geeigneten Organisationsstruktur, die in das Regelschulsystem implementiert werden kann. Zur Anregung könnte auf Materialien von Schulen in Nordrhein-Westfalen zurückgegriffen werden.
  3. Ein besonderes Augenmerk müsste auf der Auswahl der Schülerinnen und Schüler liegen, bei der vielfältige Faktoren einbezogen werden sollten.
  4. Für die erfolgreiche Einführung eines Konzepts sei es entscheidend, dass das Kollegium umfassend informiert und geschult wird. Wichtig seien jedoch auch offene Kommunikationsstrukturen und intensiver Austausch.