Handreichung

Community Communication

Thema

Bürgerbeteiligung im Gemeinwesen

Herausgeberschaft

Stiftung SPI

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Stiftung SPI

Literaturangabe

Stiftung SPI (Hrsg.): Community Communication. Diskursive Beteiligung im Gemeinwesen. Berlin 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Das Mobile Beratungsteam Berlin (MBT Berlin) der Stiftung SPI (Sozialpädagogisches Institut Berlin „Walter May“, Gemeinnützige Stiftung des bürgerlichen Rechts der Arbeiterwohlfahrt Landesverband Berlin e.V.) hat über zehn Jahre Handlungsstrategien im Sozialraum erprobt und modifiziert. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie sich Bürgerprotest unter professioneller Begleitung zum konstruktiven Diskurs und zur Mitgestaltung im Gemeinwesen entwickeln lässt. Verfolgt wird ein strategischer Ansatz zur Demokratieentwicklung gegen Rechtsextremismus, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und demokratiegefährdende Tendenzen, der aus Sicht der Teammitglieder besonders dann erfolgversprechend ist, wenn damit eine eine Einladung zu einem aufrichtigen Dialog auf Augenhöhe einhergeht, was eine Begegnung im Gespräch ermöglicht. Dialog in diesem Sinn solle einen Prozess bezeichnen, der auf einer Haltung basiert, die von gegenseitigem Respekt der Dialogpartnerinnen und -partner geprägt ist und die berechtigten Interessen, Anliegen und Bedürfnissen des Anderen anerkennt und ernst nimmt.

Das MBT Berlin unterstützt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren auf kommunaler Ebene bei der Herausforderung, die Bürgerinnen und Bürger bei strittigen Themen oder Veränderungsprozessen vor Ort mitzunehmen und diskursiv einzubinden. Dazu wurden unterschiedliche Formate entwickelt, mit denen sich der Dialog produktiv gestalten lässt. Anlass dafür war die Erfahrung des MBT, dass kontrovers diskutierte Sachverhalte lokal angepasste Gesprächsstrategien benötigen. Allein mit frontalen Formaten, wie der klassischen Podiumsdiskussion, könne nicht allen Herausforderungen begegnet werden, vor allem dann nicht, wenn damit politisch aufgeladene Konflikte einhergehen. Dies sei z.B. dann der Fall, wenn bereits zu viele Emotionen im Spiel sind, um in großer Runde sachlich diskutieren zu können, oder wenn einzelne Gruppen im Vorfeld ankündigen, die Veranstaltung sabotieren zu wollen. Dann bestehe die Gefahr, dass Konflikte eskalieren, statt gelöst zu werden. Um dies zu vermeiden, hat das MBT Berlin flexible Formate entwickelt, die die Verständigung zu Gemeinwesenkonflikten erleichtern bzw. überhaupt erst ermöglichen.

Die Broschüre richtet sich an Akteure auf kommunaler Ebene, die einen Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern zu politisch „heiklen“ Themen führen und die Anwohnerinnen und Anwohner als Mitgestaltende im Gemeinwesen diskursiv beteiligen wollen. Gegenstand der praxisorientierten Broschüre ist der Ansatz eines gemeinwesenorientierten Dialogs und die daraus erfolgreich erprobten Formate, etwa beteiligungsorientierte Anwohnerversammlungen, Face-to-Face-Formate mit Info- und Dialoginseln, Multiplikatoren- und Vernetzungsrunden sowie Bürger- und Nachbarschaftsdialoge. In den Formaten und den jeweiligen Praxisbeispielen verdichten sich die Erfahrungen aus über zehn Jahren offener moderierender Beratung und Prozessbegleitung. Vor diesem Hintergrund will die Broschüre die Expertise und die Erfahrungen des MBT Berlin an interessierte Akteure weitergeben, um erfolgversprechende Möglichkeiten zum Umgang mit Gemeinwesenkonflikten aufzuzeigen.

Die Publikation enthält Praxisbeispiele zu den einzelnen Dialogformaten und eine Checkliste zu Konzeption, Einladung und Ankündigung sowie zur Ablauforganisation solcher Veranstaltungen.

Wichtige Ergebnisse

Ansatz Community Communication

Veränderungen im lokalen Raum lösen häufig Konflikte und Diskussionen über Themen aus, die von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind, z.B. der Bau von Moscheen oder die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften. Die Gemeinwesenkonflikte, die sich daran entzünden, sind zum Teil von ausgrenzenden und diskriminierenden Äußerungen und Einstellungen geprägt. Um eine Konflikteskalation zu vermeiden und die in Konflikten enthaltenen Energien konstruktiv nutzen zu können, sollten die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner in den Veränderungsprozess frühzeitig einbezogen werden. Dazu hat das Mobile Beratungsteam Berlin für Demokratieentwicklung der Stiftung SPI in den vergangenen zehn Jahren den konzeptionellen Ansatz „Community Communication“ entwickelt. Dabei geht es weniger darum, Beteiligung im Sinne konkreter Mitbestimmungsprozesse zu initiieren, sondern in erster Linie um die Eröffnung und Gestaltung von Kommunikationsräumen. Mit vielfältigen dialogischen Formaten soll „Community Communication“ die diskursive Auseinandersetzung über Veränderungsprozesse und Konflikte in der Nachbarschaft anregen und so eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Vertreterinnen und Vertreter der Kommunen ermöglichen.

Nach Auffassung des MBT Berlin kann „Community Communication“ die Lücke schließen, die entsteht, wenn lokale Themen oder Planungsvorhaben nicht zur Disposition stehen, gesellschaftlich aber hoch umstritten und oft auch symbolpolitisch aufgeladen sind. In diesen Situationen stünden Kommunen mehreren Anforderungen gegenüber: Einerseits seien sie verpflichtet, die Bürgerinnen und Bürger vor Ort zu informieren und ihre konkreten Befürchtungen ernst zu nehmen, andererseits müssten sie Stimmungen auffangen, populistischer Panikmache entgegentreten und organisierte ideologische Menschenverachtung abwehren. Nicht zuletzt müssten sie dafür Sorge tragen, dass die sozialräumlichen Veränderungen langfristig akzeptiert und vielleicht sogar zur Chance für das Gemeinwesen werden. Mit dem Ansatz „Community Communication“ will das MBT Berlin Kommunen dabei unterstützen, diesen Anforderungen gerecht werden. Die Publikation soll eine erste konkrete Hilfestellung bieten und dialogische Formate vorstellen, mit denen Kommunikationsräume eröffnet und gestaltet werden können.

Grundsätzlich geht das MBT von einem „positiven“ Konfliktbegriff aus. Es wird angenommen, dass iIn vielfältiger werdenden Gesellschaften Problem- und Konfliktlagen komplexer werden. ­­Vielfältige Meinungen und Sichtweisen seien dabei auch mit der Chance auf differenzierte Betrachtung und neue Lösungswege verbunden. ­­Konflikte sollten somit nicht allein als Störung betrachtet werden, sondern als gesellschaftliche Lernfelder demokratisch verfasster Gemeinwesen.­­ Konflikte würden auch Energien freisetzen, die der Wertschätzung bedürfen, damit sie zu Ressourcen des Gemeinwesens werden können. Nicht selten würden lokale Konfliktfelder von Verwaltungen und politisch Verantwortlichen zumindest als latent bedrohlich wahrgenommen. Tatsächlich seien ethnisierte Konfliktlagen im Gemeinwesen mit besonderen Herausforderungen verbunden, denen mit konzeptionell basierten Kommunikationsstrategien wirksam begegnet werden könne: Schließlich seien sie einerseits dem demokratischen Grundgedanken der Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger und andererseits dem Schutz der Menschenwürde jedes Einzelnen verpflichtet.

Als Gelingensbedingungen für den Dialog im Gemeinwesen werden benannt:

  • Pluralisierung (vs. Polarisierung)
  • Transparenz (vs. Tabuisierung)
  • Gestaltung von Partizipation (vs. Scheinpartizipation)

Das MBT Berlin gibt folgende Empfehlungen für den Erfolg von Kommunikationsstrategien im Ansatz der Community Communication:

1. Zielformulierung, Stakeholder- und Risikoanalyse zur fachlichen Grundierung der Strategie; gegebenenfalls Auftragsklärung mit externer Beratung/Moderation

2. Pluralisierung des Konflikts, indem neben „Schlüsselpersonen“ auch „Brückenbauer“ gesucht und angesprochen werden, die entweder keinem eindeutigen Lager zuzurechnen sind oder die sich durch Multiperspektivität ausweisen

3. Einberufung von Multiplikatorenrunden, um möglichst im Vorfeld Einschätzungen, Stimmungen und Interessen systematisch erfassen zu können; Vertraulichkeit herstellen, verschiedene Sichtweisen, Interessen, Probleme identifizieren und offen besprechen; Konflikten hinter den Konflikten Aufmerksamkeit schenken

4. Transparenz durch frühzeitige Information der Öffentlichkeit; Kenntlichmachung der möglichen Beteiligungsschneisen

5. Generierung offener, niedrigschwelliger diskursiver Räume und Formate, die sowohl eine breite Teilhabe der Betroffenen ermöglichen, als auch auf Augenhöhe bleiben

6. Aktives „Emotionsmanagement“ und Versachlichung durch allparteiliche Moderation; „Übersetzungen“, Information und zu beachtende Rede- und Gesprächsregeln

7. Passgenaue Dialogangebote und Come-Together-Formate, die der Vertiefung und Verstetigung dienen, den Blick in die Zukunft richten und an konkreten Lösungsschritten im Gemeinwesen ansetzen

8. Wertschätzung des Engagements aller am Prozess Beteiligten

9. Visualisierung und Dokumentation aller Fragen, Einwürfe, Ergebnisse

10. Prozessorientiertes Vorgehen, d.h. Reflexionsschleifen sind vorgesehen und Nachsteuerungen möglich; alle Formate, Methoden und Vorgehen sind zielorientiert, der Prozess ist jedoch ergebnisoffen

Das Mobile Beratungsteam hat mit Blick auf die angeführten Erfolgsbedingungen Formate und Methoden erprobt, die – richtig eingebettet und passgenau vorbereitet – in verschiedenen Kontexten und Problemlagen eingesetzt werden können.

Dialogformate

  • Anwohnerversammlung: Die Anwohnerversammlung sei das bekannteste und darum klassische Dialogformat. Es diene zur kompakten Informationsweitergabe und eigne sich auch für Gruppen, die mehrere hundert Personen umfassen. Üblicherweise beginne mit einer Anwohnerversammlung ein Kommunikationsprozess, der im Anschluss an die Reaktionen der Anwohnerinnen und Anwohner bedarfsabhängig in verschiedenen Formaten fortgeführt werden könne.
  • Info-Inseln: Das Face-to-Face-Format Info-Inseln solle immer dann gewählt werden, wenn bei tendenziell strittigen Themen polarisierte Meinungen auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch gebracht werden sollen. Ein weiterer Anlass für dieses Format sei der Wunsch, möglichst viele Einzelgespräche zu ermöglichen und Interessierten individuell zu begegnen.
  • Multiplikatoren-Runde: Das Vernetzungsformat Multiplikatoren-Runde werde in einer geschlossenen Veranstaltung im Bezirk bzw. Stadtteil umgesetzt, indem lokal verankerte Akteure – etwa aus den Bereichen Politik, Verwaltung, öffentliche Sicherheit und Zivilgesellschaft – miteinander ins Gespräch kommen. So könnten sie über ein gemeinsames Vorgehen in einem zentralen Konflikt im Gemeinwesen beraten und sich vernetzen.
  • Bürgerdialog: Der Bürgerdialog sei ein Beteiligungsformat, das die beschriebenen Formate zu einer abgestimmten Beratungs- und Dialogstrategie erweitert. Der Bürgerdialog fördere Kommunikation auf Augenhöhe, stärke das Verantwortungsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger im Gemeinwesen und damit auch ein nachbarschaftliches Miteinander.

Empfehlungen für ein gelingendes Dialogformat

1. Moderation der Veranstaltung

Die Moderation müsse als neutral und allparteilich wahrgenommen werden. Daher empfehle sich die Übergabe der Moderation an ein externes Team. Die Aufgabe der Moderation sei es, einen klaren und transparenten Rahmen zu setzen, die Fragen und Antworten zu strukturieren und als Puffer zwischen allen Seiten zu fungieren. Die Moderation sollte zu Beginn der Veranstaltung allgemeine Gesprächsregeln vorstellen und je nach Bedarf darauf hinweisen, dass menschenverachtende Äußerungen zum Ausschluss von der Veranstaltung führen und der Veranstalter ggf. von seinem Hausrecht Gebrauch machen wird. Die Gesprächsregeln sollten gut sichtbar im Raum angebracht oder auf Handzetteln verteilt werden.

2. Regeln für eine gute Gesprächsatmosphäre:

  • Respektvoll miteinander umgehen
  • Andere ausreden lassen
  • Sich kurz fassen
  • Sich auf das Thema der Veranstaltung konzentrieren
  • Keine unabgesprochenen Ton-, Bild- und Video-Aufnahmen machen

3. Umgang mit offenen Fragen

Alle Fragen, Anregungen und Wünsche, die während der Veranstaltung geäußert werden, sollten von der Moderation visualisiert werden. Für den Fall, dass einzelne Punkte nicht ausreichend während der Veranstaltung geklärt werden können, sollte bereits im Vorfeld abgestimmt werden, wie mit offenen Fragen im Nachgang umgegangen wird.

4. Sicherheitskonzept

Bei kontrovers und emotional diskutierten Themen wären folgende Handlungsschritte empfehlenswert:

  • Durch eine postalische und persönliche Einladung der Anwohnerschaft lasse sich der Personenkreis der Veranstaltung überschaubar halten.
  • Vor der Informationsveranstaltung sei es sinnvoll, Kontakt mit dem zuständigen Polizeiabschnitt und mit dem oder der Beauftragten der AG Migration und Integration im Bezirk aufzunehmen, um sich über ein mögliches Sicherheitskonzept für die Veranstaltung abzustimmen.
  • Die Ausschlussklausel sollte gut sichtbar am Eingang des Veranstaltungsraums hängen. Wer das Hausrecht innehat, könnte somit Personen ausschließen, die die Veranstaltung durch verfassungsfeindliche Äußerungen und Handlungen bzw. als Bedrohung empfundene Verhaltensweisen stören. Ausgeschlossene Personen sollten die Veranstaltung sofort verlassen müssen, notfalls müsse ein zwangsweiser Ausschluss von der Versammlung durch die Polizei vollzogen werden (Versammlungsgesetz § 6 (1), § 11 (1) (2))

Fazit: Demokratie braucht Dialog

Das MBT weist darauf hin, dass gesellschaftspolitische Herausforderungen immer auch eine große Chance für die Demokratie sind. Bei mancher Anwohnerversammlung würden Bürgerinnen und Bürger eine Vorstellung von den komplexen Planungs- und Entscheidungsverfahren eines föderal organisierten Gemeinwesens erhalten, an den Info-Inseln könnten sie vielleicht erstmalig ihre Bezirksbürgermeisterin kennenlernen, beim Bürgerdialog möglicherweise die Erfahrung von Selbstwirksamkeit durch Gestaltung ihrer unmittelbaren Umgebung machen. Voraussetzung sei bei allen Formaten, dass Bürgerinnen und Bürger gefragt, gesehen und gehört werden. Demokratie brauche den Dialog. Sie brauche Gesichter und Verantwortliche, Fragen und Antworten und keine Angst vor dem freien Wort.