Fachpublikation

Bildungsteilhabe und Partizipation in Kindertageseinrichtungen

Thema

Teilhabe und Partizipation von Kindern in Kitas

Herausgeberschaft

Deutsches Jugendinstitut e.V., Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)

Autoren/Autorinnen

Annedore Prengel

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2016

Stiftungsengagement

Karg-Stiftung, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung

Literaturangabe

Annedore Prengel: Bildungsteilhabe und Partizipation in Kindertageseinrichtungen. Eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF), WiFF Expertisen, Band 47. München 2016.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Hintergrund ist, dass fast alle Vier- bis Sechsjährigen in Deutschland heute eine Kindertageseinrichtung besuchen: Mehr als 95% der Vier- und Fünfjährigen und 55% der Zweijährigen nehmen heute an den in Deutschland freiwilligen frühpädagogischen Bildungsangeboten teil (vgl. Rauschenbach 2015).

Damit kann davon ausgegangen werden, dass auf institutioneller Ebene die Voraussetzung für ihren Bildungszugang gegeben und inklusive Bildung möglich ist.

Die Autorin analysiert Bildungsteilhabe und Partizipation der Kinder im Elementarbereich. Sie will klären, wie Pädagogik in der Phase der frühen Kindheit in einem demokratischen Bildungswesen gestaltet werden kann – und zwar in einem doppelten Sinn:

  • zum einen, welche Möglichkeit der Partizipation Kinder innerhalb der Einrichtungen haben,
  • zum anderen, welche Möglichkeiten der Bildungsteilhabe Kinder aller gesellschaftlicher Gruppen haben.

In der Studie werden partizipationsrelevante theoretische, historische, pädagogische und empirische Erkenntnisse sowie Ansätze elementarpädagogischer Konzeptionen der inklusiven Bildungsteilhabe und der Partizipation einbezogen.

 

Begriffsverwendung in der Expertise:

  • Demokratiebildung: Oberbegriff für ein weites Spektrum verschiedener Ansätze mit demokratischen pädagogischen Orientierungen (Coelen 2010),
  • Inklusion: ermöglicht gemeinsames Leben und Lernen in heterogenen Gruppen, indem auf Segregation verzichtet wird,
  • Teilhabe an Bildung: bezieht sich auf Anstrengungen gegen ökonomisch und soziokulturell bedingte Benachteiligungen beim Bildungszugang,
  • Partizipation: bezeichnet die Möglichkeit der Kinder, in ihren Lebens- und Lernzusammenhängen Einfluss zu nehmen.

Ziel ist es, die umfassende Diskussion zu Partizipation und Bildungsteilhabe zu systematisieren und in Bezug auf eine entwicklungsangemessene Pädagogik zu öffnen.

Eingeflossen sind auch Erkenntnisse des Kooperationsprojekts „Partizipation und Hochbegabung“ der Karg-Stiftung und Deutschen Kinder- und Jugendstiftung – ein Bündnis im Kita-Netzwerk „Demokratie von Anfang an“. Dieses Projekt zielt darauf, Kinder mit festgestellter Hochbegabung selbst in die Überlegungen zur Schaffung guter Entwicklungsbedingungen für sie einzubeziehen. Wirksame Demokratie-Erziehung und inklusive Hochbegabtenförderung werden dabei gemeinsam betrachtet.

Am Ende leitet die Autorin Schlussfolgerungen ab, wie eine inklusive frühpädagogische Bildung gestaltet werden sollte, um eine Demokratisierung des Bildungswesens zu befördern.

Wichtige Ergebnisse

    Wichtige Ergebnisse

    Bildungsteilhabe und Partizipation in der Pädagogik der frühen Kindheit weisen nach den Ergebnissen der Studie vielfältige Formen auf: Es zeige sich eine große Pluralität – sowohl in den konzeptionellen Modellen als auch in den alltäglichen Praktiken. Dennoch könnten gemeinsame Einsichten in allen untersuchten Ansätzen der Bildungsteilhabe und Partizipation im Elementarbereich festgestellt werden. Die Autorin benennt folgende Punkte, in denen breiter fachlicher Konsens besteht:

    • Bildungsteilhabe betrifft immer den institutionell egalitären Zugang aller Kinder zu einer lebensweltlich passenden Kindertageseinrichtung – ohne Ausgrenzung – sowie die individuell-adaptive Vermittlung von elementaren Bildungsinhalten.
    • Partizipation bedeutet, dass innerhalb der Einrichtungen die Anliegen der Kinder gehört werden und die Kinder Möglichkeiten der Einflussnahme haben.
    • Wichtige Voraussetzungen für Partizipation sind: Schutz vor allen Formen der Gewalt (körperliche, seelische, sexualisierte Gewalt, Vernachlässigung); feinfühlige Beziehungen zwischen Erziehenden und Kindern sowie anerkennende Beziehungen der Kinder untereinander; Erwachsenenverantwortung in graduell unterschiedlichem Ausmaß; Menschen- und Kinderrechte als universelle rechtliche Grundlage; pädagogische Orientierungen (Bilder, Narrative, Werte und Überzeugungen) der Fachkräfte als wichtige Basis.

    Auf dieser gemeinsamen Grundlage entwickeln sich jedoch Kontroversen in verschiedenen Fragen, vor allem aufgrund unterschiedlicher Verständnisse von Schutz, Bildungsvermittlung, Entscheidungsfreiheit und Lebensformen im Kita-Alltag.

    Bausteine inklusiver Bildungsbeteiligung und Partizipation im Elementarbereich

    Die Autorin unterscheidet Bausteine für inklusive Pädagogik und Partizipation im Elementarbereich auf fünf Ebenen (institutionelle, professionelle, relationale, didaktische und bildungspolitische Ebene). Die Bausteine beruhen auf einer Kombination von Erkenntnissen aus reformpädagogischen Traditionen, inklusiven Kompetenzen des Umgangs mit Heterogenität und Inspirationen aus aktuellen Konzeptionen partizipativer Pädagogik der frühen Kindheit. Sie bilden ein eng verwobenes Geflecht und sollen einen engen Bezug zwischen Inklusion, Bildungsteilhabe und Partizipation verdeutlichen.

    1. Institutionelle Ebene

    • Desegregation in der Lebensumwelt: Die Bildungsteilhabe aller Kinder wird ermöglicht, indem alle Kinder in die Kindertageseinrichtung ihrer Lebensumwelt aufgenommen werden.
    • Externe institutionelle Kooperation: Beratungsstellen, Frühförderung, Jugendhilfe, Kindertageseinrichtungen, Schulen, Eltern, Kommune und weitere Institutionen im Sozialraum arbeiten verbindlich zusammen, um eine koordinierte und barrierefreie Nutzung der Angebote aller externen Institutionen zu gewährleisten. Diese externe Kooperation kann sowohl den Frühen Hilfen als auch der Einflussnahme der Kinder auf ausgewählte Entscheidungen in ihrer Gemeinde dienen.
    • Interne institutionelle Gestaltung: Um die Partizipation der Kinder und die Verantwortung der Erwachsenen sicherzustellen, wird eine demokratische Kita-Ordnung festgelegt. Diese umfasst zum einen „reversive“ Regeln, die für alle Beteiligten gelten, zum anderen Regeln, die sich für Erwachsene und Kinder unterscheiden. Vereinbart werden zudem kreative partizipative Ritualisierungen, Strukturen und Verfahrensweisen, die zum Profil der Einzeleinrichtung passen. Damit soll allen verschieden befähigten Kindern Einfluss ermöglicht werden, auch jenen, die sich gestisch-mimisch verständigen. Verbote werden deutlich gemacht, vor allem als Goldene Regel „Tue Dir und anderen nicht weh“ und als von Kindern einsetzbare Stopp-Regel. Bei Übergriffen sollte die Ordnung Hilfen vorsehen, die der Integration und Wiedergutmachung aller Beteiligten dienen. Die Einrichtungsordnung thematisiert die Sorge (im Sinne der „Caring Community“) für das Wohlbefinden der Kinder und Erwachsenen sowie die Offenheit für Themen und die Interessen der Kinder.

    2. Professionelle Ebene

    • Teamarbeit: Die Teams pflegen in einer kontinuierlichen multiprofessionellen Arbeit die partizipative Konzeption ihrer Kindertageseinrichtung. Die pädagogischen Fachkräfte unterstützen sich gegenseitig durch Intervision bzw. Supervision und erweiteren durch Fallarbeit ihr Verständnis für die Partizipation und die Bedürfnisse der Kinder sowie für die Gruppenprozesse.
    • Sonder- und Sozialpädagogik: In jeder Einrichtung sollte es eine feste personelle Grundausstattung mit multiprofessionellen früh-, sonder- und sozialpädagogischen Fachkräften geben, die der barrierefreien Bildungsteilhabe aller Kinder in der inklusiven Gruppe dient. Bei Bedarf sollten fallbezogene Beratung und Qualifizierung der Teams vor Ort durch externe Expertinnen und Experten hinzugezogen werden.

    3. Beziehungsebene

    • Pädagogische Beziehung: Jedem Kind wird es ermöglicht, eine Halt gebende Beziehung zu einer Bezugsperson einzugehen. Pädagogische Beziehungen mit feinfühliger Bindung werden ganz besonders bei traumatisierten Kindern gepflegt. Lernen wird in allen Bildungsbereichen interaktiv-dialogisch unterstützt und alle Kinder erfahren Anerkennung. Auf die Etikettierung als „auffällig“ wird verzichtet. In alltäglichen Interaktionen werden Wünsche und Einfluss der Kinder, wo immer möglich und sinnvoll, respektiert. Die Erziehenden vertreten begrenzende Regelungen, die den Kindern Halt geben und von Einfühlsamkeit getragen sind.
    • Peer-Beziehungen: Die Kinder pflegen untereinander gute Beziehungen. Die Erwachsenen ignorieren schmerzliche Prozesse, Verletzungen und Hierarchien der Kinder untereinander nicht und fördern die Fähigkeit von Kindern, für sich selbst und füreinander zu sorgen sowie altersgemäß auch die Bedürfnisse von Erwachsenen einzubeziehen, Konflikte fair auszutragen und auf Übergriffe zu verzichten bzw. sie nicht zu dulden.

    4. Didaktische Ebene

    • Didaktische Säule obligatorisches Lernen: Erwachsene stellen sicher, dass ausgewählte Bildungsinhalte aus allen Lernbereichen vermittelt werden, damit Kinder sich in diesen Bereichen gut entwickeln und an den kulturellen Errungenschaften in den einzelnen Bildungsbereichen teilhaben können. Darüber hinaus entwickeln die Verantwortlichen für ihre Kindertageseinrichtungen verschiedene Profile und geben ausgewählte Lernziele und Lerninhalte als Bestandteile ihres Kerncurriculums vor. Die obligatorischen Bildungsthemen sind in dem Maße inklusiv, in dem Bildungsinhalte individuell adaptiv vermittelt werden, so dass jedes Kind von seiner jeweils aktuellen Lernausgangslage aus einen Zugang hat und von der erreichten Stufe aus die Zone seiner nächsten Entwicklung anstreben kann. Dazu dienen fachbezogen gestufte Kerncurricula für alle Lernausgangslagen, dazu passende Lernmaterialien und Lerngelegenheiten sowie vor allem dialogisch-entwickelnde Interaktionen zwischen Erzieher*in und Kind. Die obligatorischen Bildungsinhalte werden in der Frühpädagogik feinfühlig angeboten, indem den Kindern Freiräume für individuelle Zugänge zu jedem Bildungsbereich eröffnet werden.
    • Didaktische Säule fakultatives Lernen: Ein Fundament jeder partizipativen elementarpädagogischen Didaktik bildet die Freiheit der Kinder, ihre Wünsche, Themen und Interessen (kinder-)kulturell auszudrücken und in Vorhaben umzusetzen. Auch die Möglichkeit zum gemeinsamen und individuellen Spiel gehört dazu. Dafür werden Materialien bereitgestellt und Räume innerhalb der Kindertageseinrichtung, aber auch draußen offengehalten. In der Kommune werden Handlungsmöglichkeiten und Lerngelegenheiten erschlossen. Responsive Interaktionen zwischen Erzieherinnen bzw. Erziehern und Kindern unterstützen die freien kindlichen Aktivitäten.
    • Alltagsnah beobachtende Diagnostik, bei Bedarf ergänzt um spezielle Diagnosen: Die pädagogischen Fachkräfte nehmen alltägliche Handlungsweisen, Themen und Interessen der Kinder wahr. Sie reagieren dialogisch darauf und treffen responsiv dazu passende Vorkehrungen. Für spezielle Diagnosen werden im Einzelfall externe Fachleute zu Rate gezogen.

    V. Finanzielle und bildungspolitische Ebene

    • Personelle Versorgung und Ausstattung: Die ausreichende dauerhafte und feste multiprofessionelle Versorgung wird altersangemessen in jeder Kindertageseinrichtung gesichert. Darüber hinaus braucht es eine angemessene räumliche und materielle Ausstattung, da fürsorgliche, partizipative Interaktionen zeitaufwendig sind. Es gibt bedarfsgerechte Möglichkeiten für Beratung durch externe Expertinnen und Experten.
    • Entwicklung: Träger und Bildungspolitik fördern Qualitätssicherung durch die Einführung partizipativer Strukturen und die Förderung professioneller Kompetenzen.