Studie mit Handlungsempfehlungen

Bildungsgerechtigkeit 4.0

Thema

Digitale Kompetenzen in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit

Herausgeberschaft

Heinrich-Böll-Stiftung

Autoren/Autorinnen

Birgit Eickelmann

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2015

Stiftungsengagement

Heinrich-Böll-Stiftung

Literaturangabe

Birgit Eickelmann: Bildungsgerechtigkeit 4.0. Berlin 2015.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

In einer Wissens- und Informationsgesellschaft gilt ein kompetenter Umgang mit neuen Technologien und digitalen Informationen als zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe. Die wissenschaftliche Studie ICILS (International Computer and Information Literacy Study) 2013 kam allerdings zu dem Ergebnis, dass viele Jugendliche in Deutschland nicht über ausreichende Computer- und IT-Kompetenzen verfügen und somit geringere Chancen auf eine erfolgreiche Teilnahme am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben des 21. Jahrhunderts haben.

Durch den Einsatz computerbasierter Tests konnte im Rahmen von ICILS erstmals ermittelt werden, über welche computer- und informationsbezogenen Kompetenzen (digitalen Kompetenzen) Jugendliche der Klassenstufe 8 in Deutschland im internationalen Vergleich verfügen. Dabei wurden Defizite des deutschen Bildungssystems in diesem Bereich deutlich.

Prof. Dr. Birgit Eickelmann (Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Universität Paderborn) hat die Ergebnisse der empirisch basierten Studie ICILS 2013 für die Heinrich-Böll-Stiftung gezielt unter dem Aspekt Bildungsgerechtigkeit ausgewertet und Handlungsempfehlungen entwickelt.

Wichtige Ergebnisse

ICILS 2013 – Wichtige Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Anhand einer repräsentativen Stichprobe konnte die Studie ICILS 2013 aufzeigen, dass sich die Jugendlichen in Deutschland im internationalen Vergleich nur auf einem mittelmäßigen Kompetenzniveau befinden und sich auch keine wirkliche Leistungsspitze herausgebildet hat. Knapp 30 Prozent der Achtklässlerinnen und Achtklässler in Deutschland erreichten auf der Kompetenzskala lediglich die beiden untersten Kompetenzstufen I und II. Da diese Jugendlichen nur über äußerst geringe computer- und informationsbezogene Kompetenzen verfügen, werden sie es künftig vermutlich sehr schwer haben, erfolgreich am privaten, beruflichen sowie gesellschaftlichen Leben des 21. Jahrhunderts teilzuhaben. Dadurch besteht die Gefahr, dass eine große Zahl an Jugendlichen aufgrund unzureichender digitaler Kompetenzen auf dem Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft den Anschluss verliert.

Folgende Disparitäten werden im Hinblick auf die digitalen Kompetenzen verschiedener Schülergruppen in Deutschland festgestellt:

Soziale Disparitäten

Es zeigen sich deutliche Unterschiede in Bezug auf den sozio-ökonomischen Status: In Deutschland haben 40 Prozent aller Jugendlichen aus Familien mit geringerem sozioökonomischen Status die Kompetenzstufe III nicht erreicht. Dies ist bei Jugendlichen aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status nur bei 15,4 Prozent der Fall.

Migrationshintergrund

Der Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler wird über zwei Indikatoren erhoben: zum einen über den Zuwanderungshintergrund, zum anderen über die Familiensprache (die Sprache, die in der Familie am häufigsten gesprochen wird). In Deutschland erreichen Achtklässlerinnen und Achtklässler ohne Zuwanderungshintergrund einen höheren Leistungsmittelwert als Schülerinnen und Schüler, deren Eltern beide im Ausland geboren wurden. Der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, der nicht die Kompetenzstufe III erreicht, liegt bei mehr als zwei Fünfteln (beide Elternteile im Ausland geboren: 40,6 Prozent; andere Familiensprache als Deutsch: 46 Prozent).

Geschlechterunterschiede

In Deutschland nutzen die Jungen neue Technologien – zuhause und in der Schule – durchschnittlich häufiger als Mädchen, verfügen aber im Mittel über geringere computer- und informationsbezogene Kompetenzen als Mädchen. Rund ein Drittel (32,9 Prozent) der Jungen in der achten Klasse zeigt nur Leistungen in den unteren beiden Kompetenzstufen I und II. Ein hoher Anteil von Jungen mit geringen digitalen Kompetenzen kommt aus Familien mit wenigen kulturellen und ökonomischen Ressourcen.

Deutlich wird, dass das deutsche Bildungssystem im Hinblick auf eine chancengerechte Teilhabe im Bereich digitaler Kompetenzen einige Gruppen überproportional stark ausschließt. Die Bildungsbenachteiligung betrifft vor allem:

  • Jugendliche aus Familien mit sozioökonomisch geringem Status
  • Jugendliche mit Migrationshintergrund
  • Jungen im Vergleich zu Mädchen

Nach Ansicht der Autorin sollten die Ergebnisse von ICILS 2013 zum Anlass genommen werden, eine Debatte über Fragen der Bildungsgerechtigkeit zu führen und dabei die digitale Kluft (digitale Spaltung) besonders ins Auge zu fassen. Der hohe Anteil von Jugendlichen mit geringen digitalen Kompetenzen zeige, dass die weit verbreitete Annahme, die Angehörigen der jungen Generation würden durch das Aufwachsen in einer digital geprägten Umwelt automatisch zu kompetenten Nutzerinnen und Nutzern digitaler Technologien werden, nicht zutreffend sei.

Bildungsgerechtigkeit 4.0: Ansatzpunkte für gezielte Entwicklungen und Handlungsempfehlungen

Ausgehend von diesen Ergebnissen stellt die Autorin fest, dass dringend Entwicklungsmaßnahmen ergriffen werden müssen, um die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland im Bereich digitaler Kompetenzen zu fördern. Ein Ausgleich von Bildungsbenachteiligungen könnte erreicht werden durch

  • die verbindliche Verankerung des Aufbaus computer- und informationsbezogener Kompetenzen in der Schule sowie
  • die gezielte, schulformübergreifende und von Evaluationen begleitete Erprobung und Implementation von Fördermaßnahmen.

Im Hinblick darauf werden weitere Maßnahmen vorgeschlagen:

Wichtig wäre es, von Schulen zu lernen, die im Bereich der digitalen Bildungsgerechtigkeit bereits gute Arbeit leisten und geeignete (Förder-)Konzepte entwickelt haben. Die Arbeitsweisen dieser erfolgreichen Schulen sollten unter Aspekten von Schulentwicklungsprozessen genauer analysiert und ihre Ansätze als Best-Practice-Beispiele für andere Schulen durch entsprechende Begleitforschung nutzbar gemacht werden.

Sinnvoll könnten auch 1:1-Ausstattungsansätze sein, wie sie in anderen Ländern bereits praktiziert werden. So wäre es möglich, Jugendlichen aus benachteiligten sozio-ökonomischen Lagen eine bildungsbezogene Nutzung neuer Technologien zu ermöglichen und für alle Schülerinnen und Schüler schulisches Lernen besser mit außerschulischem Lernen zu verzahnen.

Jugendliche mit Migrationshintergrund könnten besser gefördert werden, indem die Potenziale digitaler Medien im Hinblick auf ihre Interaktivität, Multimedialität (Kombination verschiedener Medien durch computerbasierte Angebote) und Multicodierung (Kombination von verschiedenen Darstellungsweisen, zum Beispiel Texte und Bilder) besser genutzt werden, auch um an den verschiedenen sprachlichen Hintergründen sinnvoll anzuknüpfen. Auch die Verfügbarkeit von Internetressourcen könnte in diesem Zusammenhang zur individuellen Förderung genutzt werden.

Es sollte eine gezielte schulische Förderung von Jungen sowie eine Förderung der computer- und technologiebezogenen Perspektiven von Mädchen angestrebt werden, um beide Gruppen einerseits im kompetenten Umgang mit digitalen Medien zu fördern und andererseits ihre berufliche und gesellschaftliche Teilhabe sowie ihre Potenziale, unter anderem im MINT-Bereich, besser auszuschöpfen.

Nach Auffassung der Wissenschaftlerin lassen sich Veränderungen im Hinblick auf eine Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit im Kontext digitaler Kompetenzen nur erzielen, wenn dieser Kompetenzbereich in schulische Curricula als fächerübergreifende Kompetenz verankert und die fachspezifische Nutzung neuer Technologien in die Fächer integriert wird. Dazu bedürfe es auch einer Weiterentwicklung der Lehrerbildung, die an technologische und vor allem an pädagogische Entwicklungen wieder international anschlussfähig gestaltet werden muss.