Studie mit Handlungsempfehlungen

Berufsschulen im Blick

Thema

Berufsschulen – Bestandsaufnahme und Herausforderungen

Herausgeberschaft

Deutsche Kinder- und Jugendstiftung

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Deutsche Kinder- und Jugendstiftung

Literaturangabe

Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (Hrsg.): Berufsschulen im Blick. Diskussionspapier zum Jahresthema der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gemeinnützige GmbH. Berlin 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Festgestellt wird, dass die berufsbildenden Schulen in den Qualitäts- und Strukturdebatten zu Reformen im deutschen Schulsystem kaum vorkommen (je nach Bundesland werden diese Schulen auch Berufskollegs oder Oberstufenzentren genannt). Dies sei verwunderlich, da diese Schulart als Ausbildungsort eine große Bedeutung habe: 2016 besuchten bundesweit ca. 2,1 Millionen junge Menschen und damit die Hälfte aller Jugendlichen in Ausbildung Berufsschulen, die nicht nur beruflich qualifizieren, sondern auch auf das Erwachsensein und ein selbstständiges Leben vorbereiten sollen.

Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung weist darauf hin, dass Berufsschulen nicht nur für den persönlichen Erfolg, sondern auch für die gesellschaftliche Entwicklung entscheidend sind: Es sei wichtig, dass die Berufsschulen die jungen Menschen qualitativ hochwertig ausbilden und sie auf die (zukünftige) Arbeitswelt vorbereiten. Zwar gelte das duale Berufsbildungssystem in Deutschland als besonders leistungsfähig und sei international hoch anerkannt. Dennoch müssten sich auch Berufsschulen angesichts tief greifender gesellschaftlicher Transformationsprozesse wandeln, um die gesellschaftlichen Veränderungen vorzubereiten und aufzunehmen, vor allem Arbeit 4.0, demografischer Wandel, Globalisierung, Digitalisierung, Fachkräftemangel, Mobilität, Migration, wachsende gesellschaftliche Heterogenität.

Im Frühjahr 2017 startete die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) auf Empfehlung ihres Stiftungsrates das Jahresthema „Berufsschulen im Blick“. Im ersten Schritt ging es darum, mit den Akteuren an Berufsschulen und aus ihrem Umfeld ins Gespräch zu kommen und zu erfahren:

  • wie sie die Situation an den Berufsschulen wahrnehmen,
  • vor welchen Herausforderungen Berufsschulen stehen,
  • wo sie dringenden Veränderungsbedarf sehen.

Zwischen Juli und November 2017 kamen zahlreiche Interviews mit Experten und Expertinnen hinzu und die DKJS führte bundesweit acht Dialogveranstaltungen durch, die gemeinsam mit regionalen Kooperationspartnern aus Ministerien, Unternehmen und Stiftungen sowie im Rahmen von DKJS-Programmen umgesetzt wurden. Unter den über 220 Dialogpartnern waren Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Schulleitungen von Berufs- und auch Sekundarschulen, Fachkräfte aus der Schulsozialarbeit und Berufsberatung, Mitarbeitende aus Ministerien, Kommunen, Kammern und Unternehmen sowie Stiftungen und Elternverbänden. Die Rückmeldungen wurden in Form von Herausforderungen und Handlungsansätzen zusammengefasst und in vorliegendem Diskussionspapier dokumentiert.

Das Erkundungsvorhaben wurde von der Reinhard Frank-Stiftung und der randstad stiftung gefördert, die Dialogveranstaltung in Frankfurt am Main wurde durch die Stiftung Polytechnische Gesellschaft unterstützt.

Wichtige Ergebnisse

Wichtige Ergebnisse der Gespräche und Diskussionen

1. Herausforderung: Berufsschulen haben einen schlechten Ruf

Deutlich wird, dass die Berufsschule bei Jugendlichen, ihren Eltern und in Teilen der Öffentlichkeit zunehmend das Image hat, zweite Wahl zu sein und somit ein Ausbildungsort für all jene Jugendlichen, die es nicht auf das Gymnasium schaffen. Diese gesellschaftliche Abwertung würden auch die Azubis, Berufsschullehrkräfte und -leitungen spüren.

Diese Tendenz spiegelt sich auch in der Statistik wieder: Seit 2007 ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen um 10,9 Prozent gesunken, während die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger gestiegen ist. 2016/17 wurden 509.997 neue Ausbildungsverträge geschlossen und 509.760 junge Menschen begannen ein Studium (Statistisches Bundesamt: Bildung und Kultur. Berufliche Schulen 2017, S. 25).

Wie stellt sich die gegenwärtige Situation an Berufsschulen dar?

  • Konkurrenzdruck unter den Berufsschulen: In den Gesprächen sei deutlich geworden, dass die Folgen der abnehmenden Schülerinnen- und Schülerzahlen sehr unterschiedliche Folgen für die Berufsschulen haben: Je nach Ausbildungsrichtung und Region fällt es vielen Schulen immer schwerer, Klassen aufzustellen. Dies führt im ländlichen Raum dazu, dass Berufsschulen geschlossen oder zusammengelegt werden müssen. Auch in den Großstädten geraten die Berufsschulen unter Druck, ihre vorhandenen Kapazitäten auszuschöpfen, da die Konkurrenz an Ausbildungsangeboten groß ist.
  • Orientierungslosigkeit der Jugendlichen: Aus den Dialogveranstaltungen sei oft zurückgemeldet worden, dass die Jugendlichen wenig Orientierung darüber haben, ob ein Studium oder eine Berufsausbildung besser für sie geeignet ist. Hier zeige sich ein deutliches Beratungsdefizit. Entsprechend steige der Anteil der Jugendlichen, die schlecht informiert, ohne ein Ziel und wenig motiviert an die Berufsschulen kommen. Die Schülerinnen und Schüler würden oft keine bewusste Entscheidung für ihren „Traumberuf“ treffen oder eine Ausbildung wählen, die zu ihren eigenen Interessen und Stärken passt. Oft würden sie einen Ausbildungsplatz wählen, der ihnen angeboten wird oder noch zu bekommen ist.
  • Unübersichtlichkeit der Angebote: Die starke Veränderung und Erweiterung der Berufsbilder habe dazu geführt, dass sich die Angebote der Berufsschulen immer stärker ausdifferenziert haben und zunehmend unübersichtlicher wurden. Das hat aus Sicht der Dialogteilnehmenden dazu beigetragen, dass auch Eltern und Lehrkräfte an Sekundarschulen, die die wichtigsten Beraterinnen und Berater bei der Berufswahl ihrer Kinder sind, die aktuellen Berufsbilder und das Berufsausbildungssystem nur eingeschränkt kennen. Sie würden die Jugendlichen eher daraufhin orientieren, einen möglichst hohen Schulabschluss zu erwerben und parallel dazu ein negatives Image der Berufsschulen mittransportieren. Zwar seien die Karriere- und Zukunftsoptionen einer beruflichen Ausbildung tatsächlich geringer als bei einer akademischen Ausbildung. Doch sei eine berufliche Ausbildung für manche Jugendliche, ihre Interessen und Stärken besser geeignet als ein Studium. Zudem würden Berufsschulen auch viele verschiedene Ab- und Anschlussperspektiven bieten. Diese Leistung müsse wieder gesehen und verstärkt werden.

Empfehlungen aus den Dialogen:

  • Es sollte eine frühe, systematische Berufsorientierung – spätestens mit Beginn der Sekundarschule – etabliert werden, die über die Perspektiven und Vielfalt der Dualen Ausbildung besser informiert.
  • Vor allem für die Zielgruppe Eltern sollte eine Imagekampagne durchgeführt werden, die die Vielfalt von Karrieremöglichkeiten im Rahmen der Dualen Ausbildung zeigt.
  • Wichtig wären bessere Informationen und mehr Weiterbildungen für Lehrkräfte der Sekundarschulen zu den Angeboten der berufsbildenden Schulen.
  • Es sollten Begegnungen mit Berufsschulen an allgemeinbildenden Schulen durch Kooperationen und Projekte initiiert und mehr direkter Austausch zwischen Lehrkräften der Sekundar- und Berufsschulen ermöglicht werden.

2. Herausforderung: Berufsschulen sind für viele Jugendliche die letzte Bildungschance

Festzustellen sei, dass Heranwachsende mit dem Ende der Sekundarstufe I immer häufiger die Ausbildungsreife nicht erreichen. Gerade leistungsschwachen Schulabgängerinnen und Schulabgängern fehle es an notwendigem Wissen und wichtigen Kompetenzen. Zugleich stiegen die beruflichen Anforderungen und damit die erforderlichen Ausbildungsqualifikationen stetig an. Infolgedessen vergrößere sich die Lücke zwischen hohen Berufsanforderungen und geringer Einstiegsqualifikation und damit auch die Gefahr, das „untere Drittel“ der Jugendlichen im Ausbildungssystem zu verlieren.

  • Berufsausbildung als Notlösung: Nur etwa die Hälfte aller Jugendlichen mit Hauptschulabschluss erhält gegenwärtig noch einen Ausbildungsvertrag. Die andere Hälfte befindet sich im Übergangssystem, zum Beispiel in berufsvorbereitenden Maßnahmen (siehe Bertelsmann Stiftung: Ländermonitor berufliche Bildung 2015). Betriebe bemängeln, dass viele Jugendliche nicht mehr ausreichend über grundlegende Fähigkeiten verfügen. Gleichzeitig hätten sich die Anforderungen in Bezug auf berufliche Fähigkeiten und Kompetenzen oft deutlich erhöht. Durch Berufsvorbereitungsmaßnahmen könnten junge Menschen ohne Ausbildungsreife für die Ansprüche einer Ausbildung fit gemacht werden. Doch seien sie beim Übergang auf die Berufsschule häufig durch eine schulische Misserfolgsbiografie oder Rückschläge bei der Ausbildungsplatzsuche stark frustriert. Gemessen an ihrem Kompetenz- und Leistungsniveau blieben die steigenden Anforderungen eine große Hürde für sie.
  • Bildungsverständnis der Lehrkräfte: In den Gesprächen und Dialogveranstaltungen wurde deutlich, dass die Pädagoginnen und Pädagogen der Berufsschulen oft an ihren Grenzen arbeiten. Sie würden die Herausforderung annehmen, allen Schülerinnen und Schülern einen Ausbildungsabschluss zu ermöglichen und verstünden ihre Aufgabe als einen umfassenden Bildungsauftrag. Vor allem bei leistungsschwächeren Jugendlichen seien sie der Ansicht, dass die Berufsschulzeit für diese Gruppe ihre letzte Chance im Bildungssystem ist und legten daher besonderen Wert auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf demokratische Erziehung und die Ausbildung von sozialen Fähigkeiten.
  • Sozialarbeit: Sozialpädagogische Angebote zur Kompetenzentwicklung wurden von allen Dialogbeteiligten sehr geschätzt, seien aber in Qualität und Quantität bei Weitem als nicht ausreichend bewertet worden. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter kritisierten, dass sie in der Rolle einer „Feuerwehr“ erst dann gerufen werden, wenn Berufsschülerinnen und Berufsschüler kurz vor dem Abbruch stehen. Dadurch könnten sie ihre Kompetenzen, Methoden und Präventionsinstrumente gar nicht erst anwenden.

Empfehlungen aus den Dialogen:

  • Betriebe müssten stärker Mitverantwortung übernehmen, an der Ausbildungsfähigkeit von Jugendlichen mitzuwirken.
  • In Netzwerken zwischen allgemeinbildenden Schulen, Berufsschulen und Ausbildungsunternehmen sollte ein gemeinsames Verständnis über die Anforderungen und individuellen Potenziale der Jugendlichen entwickelt werden.
  • Schulsozialarbeit sollte ausgebaut werden, was nicht nur mehr Personalressourcen, sondern auch die Stärkung der Profession und ihrer Verankerung an Berufsschulen bedeute.

3. Herausforderung: Individuelle Begleitung und Förderung gelingen an Berufsschulen zu selten

Deutlich wird, dass die schulleistungsbezogene, soziale und kulturelle Heterogenität der Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen stetig zunimmt. Obwohl Diversität schon lange gelebte Realität ist, stießen Berufsschulen mit ihren Ressourcen, Konzepten und Kompetenzen zunehmend an ihre Grenzen. Durch die steigenden Zahlen junger Geflüchteter an Berufsschulen würden diese Grenzen besonders deutlich.

  • Heterogenität der Schülerinnen und Schüler: Im Vergleich zu allgemeinbildenden Schulen sind die Zugangswege und damit die individuellen Vorerfahrungen und Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen besonders vielfältig. Das Qualifikationsniveau reicht vom Studienabbrecher mit mehreren Semestern Betriebswirtschaftsstudium bis zum Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, der seinen Schulabschluss in einer Berufsvorbereitungsklasse nachgeholt hat. Viele Lehrkräfte und Partner aus dem Umfeld von Berufsschulen seien sich einig, dass der Umgang mit Heterogenität zu den Stärken von Berufsschulen gehört.
  • Gefahr von „abgehängten“ Schülerinnen und Schülern: Die Qualität von Bildungsangeboten erweise sich vor allem „an den Rändern“, d.h. bei der Frage, ob es Berufsschulen gelingt, trotz des großen Leistungsspektrums allen Schülerinnen und Schülern einen erfolgreichen Abschluss und die bestmögliche individuelle Förderung zu bieten. In den Dialogveranstaltungen seien in diesem Zusammenhang vor allem zwei Entwicklungen thematisiert worden: erstens die Sorge um das „untere Drittel“, d.h. dass Schülerinnen und Schüler, die auf eine individuelle Begleitung und Förderung besonders angewiesen sind, keinen Abschluss oder keine ausreichende Qualifikation erhalten; zweitens die Beobachtung, dass sich die leistungsstärkeren und motivierten Jugendlichen teilweise gebremst und unterfordert fühlen.
  • Kaum Individualisierung: Aus den Gesprächen ging hervor, dass binnendifferenzierte Lehr- und Lernformen im Berufsschulunterricht noch nicht fest etabliert zu sein scheinen. Die Jugendlichen und Lehrkräfte wiesen darauf hin, dass Projektlernen, Wochenplanarbeit oder Aufgabenstellungen für unterschiedliche Leistungsniveaus nicht regelmäßig stattfinden. Auch die Potenziale digitaler Medien würden für individualisierte Förderung nicht oder kaum genutzt.
  • Bedeutung zusätzlicher Angebote: Viele Berufsschulen hoben positiv hervor, dass ergänzende Förder- und Begleitangebote vor allem für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler von großer Bedeutung sind: Diese reichen von speziellen Berufsschulprofilen mit sonderpädagogischer Schwerpunktsetzung über verkürzte, modularisierte und stärker praxisorientierte Ausbildungsgänge bis hin zu Qualifizierungs- und Unterstützungsangeboten von Bildungsträgern, Arbeitsagenturen, Kammern, Verwaltungen, Unternehmen, Stiftungen und Vereinen.
  • Schwierige Einbindung zusätzlicher Angebote: Zusätzliche Angebote werden als wichtig erachtet, doch seien diese mit mehreren Herausforderungen verbunden: Der Abstimmungs- und Koordinationsaufwand sei hoch und der Aufbau starker und gut funktionierender Netzwerke mit den vorhandenen Personalressourcen kaum zu leisten. Zudem seien die Qualität und Dauer solcher Angebote ungewiss oder die Ziel- und Altersgruppen sehr eng definiert – hier gebe es einen Mangel an Übersicht, Flexibilität und Verbindlichkeit.

Exkurs: Die Integration geflüchteter Jugendlicher stellt für die Berufsschulen eine zusätzliche Herausforderung dar.

Im Ausbildungsjahr 2015/2016 gab es 10.300 gemeldete und als ausbildungsreif anerkannte Bewerberinnen und Bewerber im „Kontext von Fluchtmigration“ (Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit). Da die Dialogveranstaltungen im Sommer und Herbst 2017 stattfanden, war das Thema der Integration von Geflüchteten noch stark virulent. Entsprechend benannten die Teilnehmenden in fast allen Workshops und Gesprächen die große Zahl geflüchteter Jugendlicher an den Berufsschulen als besondere Herausforderung.

  • Wichtige Chance: Allen Beteiligten sei klar, dass die Berufsschule für viele geflüchtete Jugendliche die erste, einzige und vielleicht auch letzte Chance ist, um eine Ausbildung zu erhalten, die deutsche Sprache zu erlernen, Freundinnen und Freunde zu finden und für sich gute Zukunftsoptionen zu entwickeln. Entsprechend groß sei der Wille und das Engagement aller Beteiligter, ihnen zum Berufsschul- und Ausbildungserfolg zu verhelfen.
  • Überforderung: Bei der Frage, wie die Integration geflüchteter Jugendlicher an Berufsschulen konkret gelingen kann, seien Unsicherheiten und Grenzen deutlich geworden: Unzureichende Sprachkompetenzen, Lücken im Allgemein- und Fachwissen, bestehende Traumata, Belastungssituationen durch laufende Asylverfahren oder Diskriminierungs- und Ausgrenzungserlebnisse seien vielfach als klare Überforderungen für die Pädagoginnen und Pädagogen benannt worden. Mögliche Lösungsansätze sahen die meisten Dialogpartner und -partnerinnen vor allem im Ausbau zusätzlicher Förder- und Integrationsangebote an der Berufsschule oder in ihrem Umfeld, weniger bei binnendifferenzierten Ansätzen.
  • Schulkultur: Die geflüchteten Jugendlichen bedürften nicht nur besonderer Förderung und Unterstützung, sondern es finde auch eine Erweiterung der religiösen, kulturellen, politischen und sprachlichen Vielfalt an der gesamten Berufsschule statt. Viele Pädagoginnen und Pädagogen berichteten, dass ihnen jedoch die notwendigen Erfahrungen und interkulturellen Kompetenzen fehlen, um die damit verbundenen Potenziale nutzen und damit einhergehende Konflikte managen zu können.

Empfehlungen aus den Dialogen:

  • Um der Heterogenität der Schülerschaft an Berufsschulen gerecht zu werden und sie individuell zu fördern, werden personelle und fachliche Ressourcen benötigt, unter anderem für Binnendifferenzierung und Schulsozialarbeit, aber auch für Konzeptions-, Koordinations- und Verwaltungsaufgaben.
  • Berufsschulen wünschen sich mehr Unterstützung beim Aufbau und der Pflege von starken Partnerschaften und Kooperationen.
  • Mit Blick auf die vorhandene Angebotsvielfalt wird die Einrichtung einer übergeordneten „Clearingstelle“ empfohlen, die eine Lotsenfunktion für Jugendliche, Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen haben sollte.
  • Für eine erfolgreiche Integration, Ausbildung und Begleitung geflüchteter Jugendlicher reichen die Regelangebote nicht aus. Hier müssten zusätzliche Angebote und Maßnahmen geschaffen werden.

4. Herausforderung: Berufsschulen und Betriebe kooperieren nicht miteinander

Alle Beteiligten seien sich darüber einig gewesen, dass eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen Berufsschulen und Betrieben notwendig ist. Gleichzeitig würden die Beteiligten bisher kaum Möglichkeiten sehen, diese verbindlich zu gestalten. Die zwei Säulen der dualen Ausbildung stünden in der Praxis unverbunden nebeneinander. Das einzig Verbindende seien dann die Jugendlichen, die an beiden Ausbildungsorten lernen und Unterschiede und Konflikte individuell managen müssen.

  • Getrennte Welten von Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben: Dass Kooperationen zwischen Bildungseinrichtungen anspruchsvoll und aufwendig sind und dass sie selten von alleine entstehen, sei bekannt. Dennoch sollte eine duale Ausbildung die enge Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben voraussetzen. Allerdings würden Vertreterinnen und Vertreter beider Einrichtungen beschreiben, wie gering die Berührungspunkte im Alltag sind, wie selten sie einander begegnen und wie wenig sie im Grunde voneinander wissen.
  • Konfliktpotenzial: Insbesondere die Berufsschülerinnen und -schüler hätten in Gesprächen häufig zurückgemeldet, dass sie sich bei ihrer Ausbildung zwischen zwei sehr verschiedenen Welten bewegen. Dieser Umstand sei von ihnen allerdings nicht immer als problematisch beschrieben worden. Meist konnten die Jugendlichen die jeweiligen Vorzüge, Nachteile und Unterschiede klar benennen. Manche beschrieben aber auch, dass sie zum Teil aufwendige Übersetzungsarbeit leisten oder Konflikte moderieren müssten und unter widersprüchlichen Erwartungen leiden würden. Dabei ging es vor allem um Fragen des Zeitmanagements, um die Pass- und Anschlussfähigkeit von Inhalten oder voneinander abweichende Informationen und Feedbacks.
  • Keine ausreichende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Wandlungstendenzen: Aufgrund der mangelnden Kooperation fehlen offenbar Ideen und Konzepte, wie sich aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen gemeinsam und konstruktiv bearbeiten lassen, die sich etwa aus dem Wandel der Arbeit oder durch die digitale Transformation ergeben. So werde das Thema „Digitalisierung“ – wie in anderen Bildungsbereichen auch – häufig nur auf technische Ausstattungs- und Anwendungsfragen reduziert bzw. als Ausbildungsinhalt behandelt. Die vielfältigen Potenziale und Möglichkeiten digitaler Medien würden weder gesehen noch genutzt, ebenso wenig die Frage diskutiert, welche weiteren Auswirkungen und Kompetenzanforderungen mit dem digitalen Wandel der Arbeitswelt einhergehen, zum Beispiel mit Blick auf lebenslanges Lernen, Flexibilität, Mobilität und Anpassungsfähigkeit. Das treffe nicht nur auf viele Berufsschulen, sondern auch auf die Akteure in den Ausbildungsbetrieben zu.

Empfehlungen aus den Dialogen:

  • Der Austausch und Dialog zwischen Berufsschulen und Betrieben sollte befördert werden, zum Beispiel durch verpflichtende Betriebspraktika oder gemeinsame Fortbildungen.
  • Es sollten verbindliche und systematische Kooperationen bei der Ausbildung und Förderung von Jugendlichen etabliert werden.
  • Wichtig wäre auch, eine gemeinsame Auseinandersetzung zu Fragen von Digitalisierung und Wandel der Arbeit zu ermöglichen und darauf aufbauende Veränderungen zu unterstützen.

5. Herausforderung: Berufsschulen sind im Alltagsgeschäft gefangen

Die Aufmerksamkeit und Ressourcen von Berufsschulen und ihren Partnern würden in der Regel für das „Alltagsgeschäft“ benötigt. Dadurch kämen notwendige gesamtstrategische Planungen, Lobbyarbeit und eine Weiterentwicklung der Berufsschulen zu kurz.

  • Fehlende Strategie: In den Dialogformaten wurde deutlich, dass sich viele Lehrkräfte für ihre Berufsschülerinnen und -schüler stark engagieren. Es zeigte sich aber auch, dass sich auffallend viele Beiträge mit den akuten Herausforderungen der täglichen Praxis beschäftigten. Im Gegensatz dazu seien strategische Aussagen und Bewertungen wenig zur Sprache gekommen.
  • Fehlende Zeit: Berufsschulen seien offenbar „in ihrem Alltag gefangen“. Besonders deutlich werde dieser Umstand, wenn den Berufsschulen grundsätzlich Unterstützungsmöglichkeiten – etwa durch Förderprogramme – zwar bekannt sind, sie diese aber nicht nutzen können, weil sowohl die Konzeption als auch das Antragsverfahren, die Bewirtschaftung von Fördermitteln und die Abrechnung als zu ressourcenintensiv angesehen werden.
  • Mangelnde Aufmerksamkeit: Ein großer Konsens in den Dialogveranstaltungen bestand darin, dass die Berufsschulen mit ihren Anliegen insgesamt zu leise sind und sie deshalb „unter dem Radar“ der öffentlichen und vor allem bildungspolitischen Aufmerksamkeit arbeiten. Es scheine, als ob sie sich ihrer eigenen Bedeutung und Potenziale wenig bewusst sind. Allerdings hätten einige Dialogpartner hier auch einen Vorteil gesehen: Aufgrund der geringen öffentlichen Wahrnehmung seien Berufsschulen wohl auch von den Schulstrukturreformen der vergangenen Jahre weitgehend ausgenommen gewesen. Die Kehrseite der „Unsichtbarkeit“ sei jedoch, dass sie dadurch auch bei notwendigen Ressourcen und Unterstützungsangeboten, zum Beispiel für eine systematische Schulentwicklung, weniger bedacht werden.
  • Keine Lobby: Hinzu komme, dass Berufsschulen nicht einmal in den Ausbildungsbetrieben und Kammern eine ausreichend starke Lobby finden. Vielmehr würden sich Berufsschulen vorwiegend mit Forderungen der Betriebe und aus der Wirtschaft konfrontiert sehen. Die Dialogbeteiligten hätten betont, dass beide Säulen des Dualen Systems aufeinander angewiesen sind und sie nur gemeinsam für zukunftsfähige Ausbildungsbedingungen sorgen könnten.

Empfehlungen aus den Dialogen:

  • Für Weiter- und Qualitätsentwicklungen sollten für Berufsschulen Qualifizierungs- und Beratungsangebote geschaffen werden, die mit ihrem Schulalltag vereinbar sind.
  • Schulentwicklungsaufgaben dürften nicht aufgrund hoher Alltagsbelastung ungelöst bleiben. Deshalb sollten Förderprogramme für Schulentwicklung die ohnehin knappen Ressourcen von Berufsschulen berücksichtigen und Begleitangebote für die Akquirierung und Durchführung ermöglichen.
  • Berufsschulen bedürfen einer starken Lobbyarbeit: Deshalb sollten Unternehmen, Eltern, Schulen, Verbände, Kammern, Medien und Verwaltungen der Berufsschule zu mehr bildungspolitischem Gewicht verhelfen.

Zur Diskussion: Zentrale Handlungsansätze

In den Dialogveranstaltungen, bei Gesprächen und durch Recherchen erhielt die DKJS viele Einsichten über die Situation der Berufsschulen in Deutschland. Die unterschiedlichen Beteiligten gaben auch Rückmeldungen, welcher dringende Handlungsbedarf aus ihrer jeweiligen Perspektive besteht. Auf dieser Grundlage wurden sieben zentrale Handlungsansätze abgeleitet, die zur Diskussion gestellt werden.

1. Es gelte, die Berufsorientierung für Jugendliche, ihre Eltern, Lehrkräfte und Bezugspersonen zu stärken und insbesondere die Potenziale der Ausbildung sowie von Berufsschulen verdeutlichen.

2. Die Qualitätsentwicklung an Berufsschulen – insbesondere in den Bereichen Unterrichts-, Personal- und Organisationsentwicklung – müssten vorangebracht werden, vor allem bezogen auf Binnendifferenzierung und individualisierte Förderung.

3. Berufsschulen sollten bei der Integration und der Ausbildung geflüchteter und neu zugewanderter Jugendlicher stärker und verbindlicher unterstützt werden.

4. Es sei notwendig, den Austausch sowie systematische Kooperationen zwischen Berufsschulen und Betrieben zu befördern.

5. Berufsschulen sollten beim Aufbau und der Koordination lokaler Netzwerke entlastet werden. Zudem sollten notwendige und wirksame ergänzende Angebote ausgebaut und die Orientierung für alle Beteiligten, vor allem die Jugendlichen, verbessert werden.

6. Berufsschulen, Betriebe und ihre Partner sollten dabei begleitet werden, mit dem Wandel der Arbeitswelt Schritt zu halten, darauf ausgerichtete Ausbildungskonzepte gemeinsam zu etablieren und insbesondere die Potenziale digitaler Medien konstruktiv zu nutzen.

7. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, gute Modelle und gelingende Ansätze für die Berufsschulentwicklung auf den unterschiedlichen Ebenen zu bündeln und zu verbreiten.