Auf Augenhöhe – Wertebildung in der Jugendarbeit mit jungen Geflüchteten
Thema
Gelingende Wertebildung in der Jugendarbeit mit jungen Geflüchteten
Herausgeberschaft
Bertelsmann Stiftung
Autoren/Autorinnen
Matthias Fack/Julia Jäckel/Manina Ott
Erscheinungsort
Gütersloh
Erscheinungsjahr
2018
Stiftungsengagement
Bertelsmann Stiftung
Literaturangabe
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Auf Augenhöhe – Wertebildung in der Jugendarbeit mit jungen Geflüchteten Ein Praxisheft. Gütersloh 2018.
Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise
Im Mittelpunkt steht die grundsätzliche Frage, wie das Zusammenleben in einer kulturell vielfältigen Einwanderungsgesellschaft dauerhaft gelingen kann. Als notwendig wird dafür eine Auseinandersetzung über die ideellen Grundlagen des Gemeinwesens betrachtet:
- Welche Werte und Prinzipien sollen das Fundament unserer Gesellschaft bilden?
- Wie kann ein konstruktiver Umgang aller gesellschaftlichen Gruppen mit der Wertevielfalt aussehen, die für unsere demokratische Gesellschaft prägend ist?
- Wie lässt sich das Miteinander so gestalten, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache, Religion und Kultur friedlich miteinander leben können?
Eine gelingende Integration setzt nach Ansicht der Autorinnen und Autoren Wertebildung voraus: Für ein friedliches Miteinander sei es unverzichtbar, dass alle Menschen gemeinsame Grundwerte anerkennen, wie sie in den Menschen- und Kinderrechten sowie im Grundgesetz verankert sind. Sie seien der Orientierungsrahmen, der wechselseitigen Respekt und Anerkennung sicherstellt und zugleich dort Grenzen setzt, wo Diskriminierung beginnt und ein friedliches Miteinander gefährdet ist. Darüber hinaus würden diese Grundwerte Orientierung im Umgang mit Konflikten bieten, die aus unterschiedlichen Wertvorstellungen erwachsen können. Der Wertebildung von Kindern und Jugendlichen komme dabei eine besondere Aufgabe zu, da Kindheit und Jugend wichtige Phasen in der Persönlichkeitsentwicklung darstellen und somit für die Wertebildung von herausragender Bedeutung sind.
Einen besonderen Beitrag zur Wertebildung von Kindern und Jugendlichen leiste die Jugendarbeit. Sie stehe allen jungen Menschen offen und könne diese gesellschaftliche Gruppe mit ihren Prinzipien der Freiwilligkeit, Partizipation und Selbstorganisation viel besser erreichen als Institutionen des formalen Lernens. Gerade für junge Geflüchtete biete die Jugendarbeit einen Ort, an dem sie mit Gleichaltrigen Erfahrungen sammeln, über Werte diskutieren und ihre Persönlichkeit entwickeln können. Hier könnten sie Teilhabe erfahren und Orientierung erhalten, und erleben, dass sie nicht nur „Neue“ in einem fremden Land sind, sondern auch junge Menschen, die ihre Identität entwickeln und ihren eigenen Weg suchen. Gleichwohl sei die Wertebildung mit jungen Geflüchteten mit besonderen Herausforderungen verbunden: So würden Sprachbarrieren sowie Ängste und Vorurteile von Geflüchteten wie Einheimischen die gemeinsame Auseinandersetzung mit Wertefragen erschweren. Davon dürfe man sich jedoch nicht entmutigen zu lassen. Vielmehr sollten die Potenziale der Jugendarbeit für die Wertebildung junger Menschen genutzt werden.
Mit der vorliegenden Publikation sollen den in der Jugendarbeit Tätigen, Haupt- wie Ehrenamtlichen, Anregungen gegeben werden, wie Wertebildung mit jungen Geflüchteten in der Jugendarbeit gestaltet werden kann. Grundlage bilden die Erfahrungen aus verschiedenen Projekten. Die Informationen und Praxisbeispiele sollen zeigen, wie vielfältig sich Wertebildung mit jungen Geflüchteten in der Jugendarbeit gestalten lässt.
Um die Vernetzung von Initiativen anzustoßen und Ressourcen für die Jugendarbeit mit jungen Geflüchteten bereitzustellen, hat der Bayerische Jugendring 2015 das Aktionsprogramm „Flüchtlinge werden Freunde“ (www.fluechtlinge-werden-freunde.de) ins Leben gerufen. Aus den Projektregionen dieses Aktionsprogramms stammen die meisten Praxisbeispiele der Publikation, die von einem Autorenteam des Bayerischen Jugendrings (Matthias Fack, Julia Jäckel und Manina Ott) verfasst wurde.
Im Praxisheft werden einzelne Projekte detailliert dargestellt, Konzepte und Methoden vorgestellt und von Erfahrungen und Erkenntnissen berichtet. Schließlich werden auch Handlungsempfehlungen gegeben. Vorangestellt wurde ein grundsätzlicherer Teil über Werte und die Rolle von Wertebildung in einer pluralistischen Gesellschaft. Inhaltliche Basis dieses Teils sind die „Leitlinien für die Wertebildung von Kindern und Jugendlichen“, die das Netzwerk Wertebildung der Bertelsmann Stiftung entwickelt hat.
Wichtige Ergebnisse
Empfehlungen für die Wertebildung mit jungen Geflüchteten
Gelingende Wertebildung
- basiert auf Beteiligung und Dialog: Wichtig sei deshalb Selbstbildung statt hierarchischer Vermittlung. Kinder und Jugendliche sollten als eigenverantwortliche Akteure ernstgenommen werden und sich mit ihren Fragen und Themen einbringen können.
- gestaltet sich lebenswelt- und ressourcenorientiert: Es sollte an die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und die dort gemachten Erfahrungen angeknüpft werden.
- ist ganzheitlich ausgerichtet: Emotionales, erfahrungsbasiertes Lernen sollte ebenso einbezogen werden wie Lernen über Vorbilder und eine kognitive, wissensbasierte Auseinandersetzung. Haltung, Kompetenz und Handeln sollte gleichermaßen gefördert werden.
- ist institutionell verankert: Ihre Grundprinzipien sollten sich in den organisatorischen Standards der Institutionen und der Projekte der Jugendarbeit wiederfinden.
(Grundlage: Leitlinien für die Wertebildung von Kindern und Jugendlichen des Netzwerks Wertebildung der Bertelsmann Stiftung)
Tipps für die Jugendarbeit mit jungen Geflüchteten
- Eigene Strukturen überprüfen und interkulturelle Öffnung angehen: Eine kritische Bestandsaufnahme könne hilfreich sein, wenn geklärt werden soll, wie offen die eigenen Strukturen für junge Geflüchtete sind: Nehmen junge Geflüchtete/Jugendliche mit Migrationshintergrund bereits an eigenen Angeboten (regelmäßig) teil? Welches Wissen benötigen die Mitarbeitenden und Jugendleitungen, um geeignete Angebote für junge Geflüchtete umsetzen zu können? Interkulturelle Kompetenztrainings und Fortbildungen zum Thema Interkulturelle Öffnung könnten dabei hilfreich sein. Zur Bestandsaufnahme gehören auch praktische Überlegungen: Wie werden junge Geflüchtete angesprochen? Kann die Kommunikation verbessert werden? Sinnvoll wären Flyer für Veranstaltungen, aber auch leicht zugängliche Informationen auf der Website in relevanten Sprachen (z.B. Englisch, Arabisch, Dari). Sprachmittlerinnen und -mittler könnten bei der Überwindung von Sprachbarrieren helfen, etwa bei Veranstaltungen oder der Zusammenarbeit im pädagogischen Team.
- Netzwerke nutzen: Um jungen Geflüchteten die Angebote der Jugendarbeit zugänglich zu machen, sei es hilfreich, sich mit den Akteuren zu vernetzen, die bereits direkten Kontakt zu und Erfahrungen mit der Zielgruppe haben. Das könnten die Jugendämter, die kommunalen oder karitativen Träger sein, ebenso wie Helferkreise, Initiativgruppen, Schulen oder bereits aktive Jugendverbände.
- Geduld und Frustrationstoleranz mitbringen: Diese Eigenschaften würden im außerschulischen Bildungsbereich mit jungen Geflüchteten als essentiell betrachtet: Zum einen gelte es, Geduld für die bürokratischen Wege mitzubringen, zum anderen müsse ein langer Atem bewahrt werden, wenn erst einmal nur wenige junge Geflüchtete zu einem lange vorbereiteten Austausch erscheinen. Geduld heiße vor allem, „dranzubleiben“, auch wenn etwas nicht gleich von Anfang an klappt.
- Geplante Treffen gut kommunizieren: Am Anfang könne ein Abholservice hilfreich sein, der die jungen Geflüchteten zum Treffpunkt bringt. Damit aus Kontakten und Begegnungen, Freundschaft und Verbundenheit wachsen, brauche es also vor allem Zeit, Geduld und Regelmäßigkeit.
- Offen sein und bleiben: Jugendarbeit mit jungen Geflüchteten erfordere Offenheit und Flexibilität. Es sei damit zu rechnen, dass Sachen anders laufen als geplant. Man sollte gewappnet sein, dass einem möglicherweise Misstrauen entgegenbracht wird, dem nur mit Argumenten und Dialogangeboten begegnet werden kann. Offen sein heiße auch, es nicht persönlich zu nehmen, wenn junge Geflüchtete nicht jedes Angebot dankbar annehmen. Es gelte, die Verschiedenheiten der Menschen anzuerkennen und einen Lernprozess zuzulassen.
Zehn Empfehlungen für die Wertebildung mit jungen Geflüchteten
1. Jugendarbeit ist Wertebildung inhärent: Indem Projekte der Jugendarbeit Jugendlichen und jungen Erwachsenen Freiräume eröffnen, um selbstverantwortlich miteinander umzugehen, Ideen zu entwickeln und Konflikte zu lösen, stellten sich automatisch auch Fragen nach der Geltung von Werten. Junge Geflüchtete ebenso wie einheimische Jugendliche könnten und sollten sich hier gleichermaßen einbringen. Sie könnten dabei erleben, dass sie unterschiedliche Erfahrungen und Einstellungen mitbringen, aber auch viele Gemeinsamkeiten haben. Wertebildung vollziehe sich in solchen Gruppenprozessen indirekt und spielerisch, brauche aber auch die Unterstützung durch pädagogische Fachkräfte, etwa bei der Eingrenzung von Konflikten.
2. Werte sind ein Thema für junge Geflüchtete: Geflüchtete Menschen würden vor Gewalt, Unterdrückung, der Beschränkung ihrer Freiheit und der Bedrohung ihres Lebens fliehen. Sie wüssten aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, wenn Gesetze, aber auch persönliche Werte und Überzeugungen missachtet werden. Werte spielten in ihrer Biografie also häufig eine zentrale Rolle. Nicht nur deswegen seien junge Geflüchtete meist sehr wissbegierig und wollten mehr darüber erfahren, wie das politische und gesellschaftliche System in Deutschland funktioniert und welche Werte hier gelebt werden. Wertebildung könne daher offensiv mit einer Auseinandersetzung über gesellschaftliche oder politische Themen verbunden werden, da die Bereitschaft dazu oft hoch sei. Wichtig sei dabei, dass pädagogische Fachkräfte sich selbst ihrer Identität und ihrer Werte bewusst sind und auch mit schwierigen Themen angemessen umgehen, etwa wenn in einer Gruppe antisemitische oder menschenfeindliche Einstellungen sichtbar werden. Sie müssten auch damit rechnen, an einem hohen Ideal gemessen zu werden, da viele Geflüchtete mit einer Vorstellung von einer demokratischen, offenen Gesellschaft nach Deutschland kommen, sich selbst aber in ihrem Alltag als nicht gleichberechtigt erleben und Diskriminierung erfahren. Auch solche Erfahrungen könnten ein Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung mit Werten sein.
3. Professionalität erfordert eine bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen: Interkulturelle Pädagogik setze voraus, sich der „Schubladen“ und Stereotype bewusst zu sein, die die eigene Wahrnehmung prägen. Dabei werde deutlich, dass Fremdheit mit dem eigenen Wertesystem sehr viel zu tun hat und keine objektive Größe ist. Interkulturelle Trainings und Fortbildungen könnten dafür sensibilisieren und seien daher wesentlich für eine reflektierte Wertebildung in der Einwanderungsgesellschaft. Aber auch die Begegnung mit geflüchteten Jugendlichen selbst sei ein Augenöffner, da sie zeige, dass viele Bilder im Kopf, Ängste, Vorbehalte und Erwartungen nicht passgenau sind. Der Anspruch sollte daher sein, eine differenzierte Perspektive zu entwickeln, die Kulturalisierung vermeidet und junge Geflüchtete als Individuen in den Blick nimmt. Nicht zuletzt das wichtige Prinzip der Augenhöhe fordere zu dieser Haltung auf.
4. Selbstverständliches ist nicht selbstverständlich: Werte spielten im Alltag oft unbewusst eine Rolle, etwa indem eingespielte Überzeugungen das Verhalten steuern. Solche Alltagspraktiken seien für manche Menschen selbstverständlich, für andere nicht. Diese Unterschiede könnten im Alltag, etwa in einem Jugendzentrum, zu Konflikten führen. Dann sei es sinnvoll, aus der Situation herauszutreten und zu analysieren, z.B. warum eine Diskussion gerade sehr emotional wird. Interkulturelle Wertebildung ziele darauf, Menschen dazu zu befähigen, Andersartigkeit auszuhalten. Als Grundhaltung helfe es, sich einzuprägen, dass Selbstverständliches nicht für jeden selbstverständlich ist. Selbstverständliches sei etwas Verinnerlichtes und Gewachsenes, das sich auch in den Familien unterscheidet. Für die Wertebildung sei es deshalb wichtig, für Wertevielfalt zu sensibilisieren und über eigene sowie die Wertevorstellungen anderer miteinander zu sprechen.
5. Hintergrundwissen aneignen: Fachkräfte und Ehrenamtliche müssten darauf vorbereitet sein, dass viele junge Geflüchtete auf ihrer Flucht oder in ihrem Herkunftsland traumatische Erfahrungen gemacht haben. So sollten Jugendleitungen in Betracht ziehen, dass Geflüchtete emotional und körperlich ganz anders auf eine Situation reagieren als erwartet. Hierfür gebe es keine Patentlösung. Eine Möglichkeit wäre, den eigenen Fachkräften und Ehrenamtlichen über Seminare Einblick in die Themen Traumata und Flucht zu geben. Wichtig sei jedoch, dass Jugendarbeit eine Traumatisierung nicht auffangen kann, sondern dass es dafür eigene Experten oder Expertinnen brauche. Gleichzeitig müssten junge Geflüchtete als Jugendliche wahrgenommen werden, die schwierige Erfahrungen gemacht haben. Aus Sicht der Wertebildung sei zu berücksichtigen, dass krisenhafte oder traumatische Erfahrungen alle bisher als „sicher“ geglaubten Werte unter Umständen auf den Kopf stellen können oder dass sie durch das Erlebte sogar entwertet worden sind. Das könne sich auch auf Wertedebatten mit und unter Jugendlichen stark auswirken. Andererseits müssten nicht zwangsläufig alle aus schwierigen Situationen geflüchteten Jugendlichen traumatisiert sein.
6. Auf die Zielgruppe achten und Vertrauen aufbauen: Junge Geflüchtete würden die Angebote der Jugendarbeit oft als Teil einer Gesellschaft erleben, die (zunächst) fremd und kompliziert sei und teilweise sogar als willkürlich erscheine. Deswegen sei es gerade in der Anfangsphase notwendig, aktiv auf die Jugendlichen zuzugehen, sie in ihren Unterkünften aufzusuchen, wiederholt den Kontakt zu suchen und Schritt für Schritt Vertrauen aufzubauen. Gerade letzteres sei herausfordernd: Jungen Geflüchteten falle es oft schwer, Vertrauen aufzubauen. Hier sei intensive Beziehungsarbeit nötig. Dabei könne es hilfreich sein, Betreuende, Helferkreise oder Selbstorganisationen von Geflüchteten in die Ansprache oder die Organisation von Angeboten einzubeziehen. Auch Abholdienste könnten praktisch dazu beitragen, Zugänge zu erleichtern. Das koste Zeit und Ressourcen, die eingeplant werden müssten. Bei der Planung und Gestaltung von Angeboten müsse auch darauf geachtet werden, ob z.B. der Zeitpunkt der Veranstaltung möglicherweise mit einem muslimischen Feiertag zusammenfällt oder ob es einen Gebetsraum am Veranstaltungsort gibt. Für die Wertebildung bedeute das, die Bedürfnisse der Zielgruppe im Blick zu haben, sich an der Lebenswelt der Jugendlichen zu orientieren und vertrauensvolle Beziehungen als Basis für konstruktive Auseinandersetzung aufzubauen.
7. Mädchen und junge Frauen bedürfen einer besonderen Ansprache: Erfahrungen würden zeigen, dass Jungen und junge Männer für Angebote der Jugendarbeit häufig schneller zu gewinnen seien als weibliche Geflüchtete. Eine besondere Vorsicht und Zurückhaltung (auch der Eltern) könnte dabei ebenso eine Rolle spielen wie Erwartungen an eine eher geschlechtergetrennte Freizeitgestaltung. Es lohne sich daher, bei den Mädchen und Frauen direkt nachzufragen, was sie sich wünschen und welche Interessen und Vorbehalte sie haben. Auch die Einbeziehung der Eltern sei sinnvoll. Es könnte auch ein exklusives Angebot für Mädchen und Frauen organisiert werden, das sich an Geflüchtete und an Einheimische richtet. Aus Sicht der Wertebildung sei hier die Vorbildrolle von Frauen mit ähnlichen Vorerfahrungen in den Blick zu nehmen, die sich bewusst für spezifische Angebote als Mitarbeitende gewinnen lassen können.
8. Junge Geflüchtete als Jugendliche mit altersspezifischen Interessen und Bedürfnissen: Auch wenn die jungen Geflüchteten Einschneidendes erlebt haben, das in einer lebensweltorientierten Arbeit im Blick sein muss, so seien sie doch in erster Linie Jugendliche und junge Erwachsene. Deswegen sollte vor einer Entscheidung zugunsten gesonderter Angebote geprüft werden, inwieweit eine Öffnung bestehender Angebote möglich ist und geflüchtete Jugendliche gezielt dafür gewonnen werden können. Für sie könnte aus gemeinsamen Freizeitaktivitäten ein Stück Normalität entstehen, die einheimischen Jugendlichen könnten wiederum andere Sichtweisen auf die Welt kennenlernen und beide Seiten könnten neue Freunde gewinnen. Das Lebensalter und die Lebensphase mit ähnlichen Interessen würden für die Wertebildung besondere Chancen ergeben.
9. Wertevielfalt aushalten und klare Haltung einnehmen: Die Jugendarbeit habe es nicht erst mit unterschiedlichen Wertvorstellungen zu tun, seitdem junge Geflüchtete ihre Angebote besuchen. Die große Vielfalt an Perspektiven bereichere, könne aber auch zu Konflikten oder Meinungsverschiedenheiten führen. Pädagogische Fachkräfte sollten diese Auseinandersetzungen, etwa um Gleichberechtigung, Gender und Herkunft, als Chance ansehen, weil sie die Möglichkeit bieten würden, explizit über Werte ins Gespräch zu kommen. Vielleicht zeige sich dabei, dass manche Jugendliche eher unsicher als festgefügt in ihren Vorstellungen sind und vor allem das Bedürfnis haben, mehr zu erfahren und zu verstehen. Deswegen wäre es hilfreich, wenn Fachkräfte als Vorbilder authentisch bleiben, ihre Haltung deutlich machen und Wertvorstellungen vorleben, die den Prämissen der Jugendarbeit entsprechen: Frauen sind gleichberechtigt, Sexismus wird ebenso wenig geduldet wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.
10. Kommunikation auf verschiedenen Ebenen: Auch wenn es vielleicht einfacher sei, über Werte ins Gespräch zu kommen, wenn man dieselbe Sprache spricht, zeige die Erfahrung, dass Verständigung auch ohne diese Voraussetzung möglich ist und unterschiedliche Sprachen kein unüberwindbares Hindernis in der Jugendarbeit mit Geflüchteten darstellen. Zum einen seien gerade geflüchtete Jugendliche durch ihren Alltag geübt darin, untereinander zu übersetzen. Zum anderen basierten Begegnung und Austausch nicht allein auf Sprache. Jugendliche könnten untereinander andere Wege der Verständigung finden, etwa über gemeinsame Interessen und Aktivitäten wie Musik oder Sport. Für die Wertebildung heiße das, neben der expliziten Auseinandersetzung mit Werten (Gespräche oder Diskussionen) auf indirekte Wege zu setzen. Durch gemeinsame Aktivitäten und Erfahrungen könnten Werte gemeinsam erlebt und gelernt werden.
Fazit und Ausblick
Die Autorinnen und der Autor kommen zu dem Schluss, dass sich gelingende Wertebildung im Dialog vollzieht und offen für ihr Gegenüber bleiben müsse. Sie sollte als Einladung verstanden werden, sich in die demokratische, offene und vielfältige Gesellschaft einzubringen und sie mitzugestalten. Dies gelinge nur auf Augenhöhe und erfordere die Bereitschaft, sich auf andere Perspektiven einzulassen. Wertebildung sei ein Prozess, der allen Seiten etwas abverlange. So müsse sich auch eine pädagogische Fachkraft zunächst über die eigenen Wertmaßstäbe klar werden, bevor sie eine Maßnahme zur Wertebildung mit Geflüchteten entwirft. Es müsse verstanden werden, dass alltägliches Handeln von Werten durchzogen ist und dass Menschen andere Menschen oft unbewusst nach den eigenen Werten beurteilen oder ihnen diese zuschreiben. Dies mache Reflexion erforderlich. Wichtig sei auch, sich darüber bewusst zu werden, dass Werte nicht absolut gelten, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses sind, dass sie wandelbar und auslegungsbedürftig sind. Das gelte auch für die demokratischen Grundwerte, die sich erst in einem langen Prozess in Auseinandersetzung mit erlebtem Unrecht ausbilden mussten. In der gegenwärtigen pluralistischen Einwanderungsgesellschaft lohne es sich, für sie zu werben, da demokratische Grundwerte individuelle Freiheit und weltanschauliche und kulturelle Vielfalt gewährleisten und dadurch die Basis für ein friedliches, respektvolles Miteinander legen. Diese Werte, die als normative Regeln Eingang in die Rechtsprechung gefunden haben, könnten als Grundlage der Wertebildung verstanden werden. Darüber hinaus gebe es aber in der pluralistischen Gesellschaft sehr viele Werte, die nebeneinander bestehen oder auch miteinander konkurrieren — hier sei eine generelle Offenheit gegenüber unterschiedlichen Wertvorstellungen und Lebensstilen gefordert. In der Arbeit mit jungen Geflüchteten werde der Wertebildung meist besondere Bedeutung zugesprochen. Dabei könne schnell eine Schieflage entstehen, indem angenommen wird, die einen hätten die vermeintlich richtigen Werte zu vermitteln und die anderen nur zu lernen. Ein Dialog auf Augenhöhe habe dann aber keine Chance mehr. Wertebildung basiere auf einem Dialog: Es gelte, junge Geflüchtete als Menschen mit Potenzialen und nicht als Menschen mit Defiziten wahrzunehmen. Ihre Meinungen, Gedanken und Wahrnehmungen, Werthaltungen und Erfahrungen sollte Gewicht gegeben werden – die Jugendarbeit habe die Chance, diesem Raum zu geben.
Die in der Publikation vorgestellten Projekte werden als Anregung für diesen Wertedialog gesehen. Sie sollen Vorschläge sein, wie man ins Gespräch kommen und wie eine wertesensibilisierende und wertebildende Praxis aussehen kann. Sie sollen Lust machen, etwas auszuprobieren, zu improvisieren, Debatten auszulösen, und sie fordern, im eigenen Kopf und in der Umsetzung von Ideen beweglich zu bleiben. Entscheidend sei, dass Jugendarbeit aktiv und immer wieder neu auf junge Geflüchtete zugeht, um mit ihnen Aktionen und Projekte durchzuführen. Erst wenn sie auf die Interessen von jungen Geflüchteten trifft und ihren Ideen und Werten Raum gibt, fördere sie ihre gesellschaftliche Teilhabe