Ankommen. Durch Normenorientierung und Wertediskussion den Integrationsprozess für Flüchtlinge erleichtern
- Handlungsfeld
- Diversität
- Politische Bildung
Thema
Wertebildung in der Arbeit mit Geflüchteten
Herausgeberschaft
Stiftung SPI
Autoren/Autorinnen
Carl Chung/Johanna Dietrich/Aylin Karadeniz/Rita Schmidt
Erscheinungsort
Berlin
Erscheinungsjahr
2017
Stiftungsengagement
Stiftung SPI
Literaturangabe
Stiftung SPI (Hrsg.): Ankommen. Durch Normenorientierung und Wertediskussion den Integrationsprozess für Flüchtlinge erleichtern. Berlin 2017.
Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise
Hintergrund ist, dass im Jahr 2015 im Zuge weltweiter Flüchtlingsbewegungen knapp 900.000 Geflüchtete nach Deutschland kamen und ein sehr großer Teil davon im Land bleiben wird. Die Autorinnen und Autoren verdeutlichen, dass die meisten Schutzsuchenden die Demokratie und den Grundsatz der Gleichberechtigung befürworten, doch gebe es manchmal auch Irritation und Überforderung. Die vielfältigen und manchmal widersprüchlichen Verhältnisse in einer freiheitlich-demokratischen, offenen pluralistischen Gesellschaft konfrontierten Neuzugewanderte mit ungewohnten Eindrücken und Erfahrungen. Vielen sei unklar, welche Regeln und Normen in einer liberalen Gesellschaft gelten.
Das Mobile Beratungsteam Berlin (MBT Berlin) für Demokratieentwicklung der Stiftung SPI (Sozialpädagogisches Institut Berlin „Walter May“) hat bei vielen Gesprächen im Rahmen von Recherchen, Hospitationen und Beratungen in Flüchtlingseinrichtungen festgestellt, dass sich viele Schutz- und Zufluchtsuchende mehr Orientierung und eine Einführung in die deutsche Gesellschaft wünschen. Ganz besonders sei das Bedürfnis formuliert worden, die Regeln des Alltags der Aufnahmegesellschaft kennenzulernen. Die Unterbringung in Massenunterkünften und die damit einhergehende Trennung von der Aufnahmegesellschaft verstärkten die Orientierungslosigkeit noch. Deshalb komme den Lebensbedingungen in der Unterkunft, aber besonders den dort haupt- oder ehrenamtlich arbeitenden Menschen bei der gewünschten Orientierung eine wichtige Rolle zu. Für die Schutzsuchenden repräsentierten sie das konkrete Deutschland, in dem sie ankommen. Doch im Arbeitsalltag der Sozialarbeitenden würden sich organisatorische Fragen und die Anliegen der Bewohnerinnen und Bewohner mit einer hohen Dringlich- und Beharrlichkeit immer wieder in den Vordergrund schieben. Die Aufgaben seien zahlreich: Anträge ausfüllen, Kita- und Schulplätze organisieren, Ärzte suchen, Beratungsleistungen erbringen, mit Behörden kommunizieren. Viele – auch professionelle – Helfende und Sozialarbeitende und andere Zuständige in der Flüchtlingsarbeit fühlten sich damit überfordert oder in ein Dilemma gedrängt. Damit seien viele Fragen verbunden:
- Wie kann Werte- und Normenorientierung im Unterkunftsalltag funktionieren?
- Für welche allgemeinverbindlichen Werte und Normen wollen und können sie überhaupt einstehen?
- Ist es angebracht, Neuankömmlinge mit diesen Normen zu konfrontieren, oder sollte man sie mit Rücksicht auf ihre kulturelle Prägung sowie auf ihre schwierige Flucht- und Lebenssituation erst einmal in Ruhe lassen?
- Wie hilfreich können Rücksichtnahmen sein, und wo wird den Flüchtlingen dadurch eine gleichberechtigte Teilhabe und Perspektive in Deutschland verbaut?
- Um welche Normen und Werte kann oder sollte es überhaupt gehen?
Die vorliegende Handreichung wurde im Rahmen des Masterplans Integration und Sicherheit des Berliner Senats erarbeitet. Sie will unterstützen, mit Fragen und Widersprüchen zu allgemeinverbindlichen Normen und Werten in der professionellen und ehrenamtlichen Beziehungsarbeit mit Flüchtlingen umzugehen. Dabei wird folgende Basis zugrundegelegt: Die Grundwerte in Deutschland stützen sich auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Europäische Menschenrechtskonvention und andere rechtlich verbindliche europäische und internationale Menschenrechtsabkommen. Die daraus resultierenden Normen und Werte beschreiben einen allgemeinen Rahmen für Leitideen, wie das gesellschaftliche Zusammenleben in Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit gestaltet werden kann.
Normen könnten am wirksamsten in der Beziehungsarbeit und Werte im Dialog vermittelt werden: Neben dem persönlichen Gespräch und der sozialpädagogischen Beziehungsarbeit seien unterschiedliche und flexibel gestaltete Dialog- und Bildungsformate nötig und geeignet, um Neuankömmlingen Orientierung und Halt zu geben. Das Einbeziehen von Normenorientierung und Wertediskussion erleichtere das soziale Leben in der Unterkunft und stärke die Handlungssicherheit in Konfliktsituationen. Sie könnten somit sowohl für die Bewohnerinnen und Bewohner als auch für den Unterkunftsalltag und alle Mitarbeitenden einen Mehrwert darstellen.
Die Handreichung konzentriert sich darauf, wie die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Arbeit mit Schutzsuchenden gestalten können. Sie soll Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in der Flüchtlingsarbeit dabei unterstützen, ihre Handlungskompetenzen zu stärken, bereits bestehende Reflexionsformate (Supervision, kollegiale Fallberatung etc.) zu ergänzen, konkrete Konfliktfälle zu bearbeiten und Anregungen zur Konfliktprävention kennezulernen.
Kern der Handreichung sind Fallbeispiele aus der Flüchtlingsarbeit, die aus der Reflexion von Hospitationen, Beratungen, Fortbildungen und Gesprächen mit Leitungen, haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Leitungen von Flüchtlingsunterkünften sowie Schutzsuchenden gewonnen wurden. Die beschriebenen Situationen und Fragen sind, mit leichten Veränderungen, der Praxis der mobilen Beratungsarbeit entnommen. Es wurden exemplarische Fallbeispiele ausgewählt, die wesentliche Grundwerte des Zusammenlebens betreffen (z.B. Religionsfreiheit, Rechte des Kindes, Gleichheit von Mann und Frau). Zum jeweiligen Fallbeispiel wird keine „richtige Lösung“ als Handlungsempfehlung gegeben, sondern durch Reflexionsfragen dazu angeregt, eigene Lösungen für die jeweilige spezifische Situation zu finden. Zusätzlich gibt es zu jedem Fall Kurzinfos zum rechtlichen Rahmen sowie Adressen und Links zur weiteren Unterstützung.
Wichtige Ergebnisse
Für die Normenvermittlung werden die konkreten Lebensverhältnisse und Bedingungen des Zusammenlebens im sozialen Nahfeld als wesentlich betrachtet. Deshalb sollte der Rahmen und das Setting in Flüchtlingsunterkünften so gestaltet werden, dass die verbindlichen und verbindenden Werte und Normen der Aufnahmegesellschaft nachvollziehbar werden, Orientierung geben und den Bewohnerinnen und Bewohnern neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Die Gestaltung des Gesamtsettings (also die Infrastruktur, die räumlichen Bedingungen sowie die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden) sollte folgende Aspekte befördern:
- Partizipation und Gleichberechtigung
- Pluralismus und Vielfalt
- Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Übernahme von Verantwortung
- Begegnungsräume jenseits hierarchischer Strukturen
- den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl
- das konstruktive Lösen von Konflikten
- das verbindliche Einhalten deutlich artikulierter Normen und Regeln
- eine Öffnung und Kooperationen mit der Zivilgesellschaft/zum sozialen Umfeld
- die spätere Integration der Bewohnerinnen und Bewohner
Über eine Bestandsanalyse sollte zunächst herausgefunden werden, wo eine Einrichtung und die Mitarbeitenden auf dem Weg zur Verwirklichung der oben aufgeführten Punkte stehen und welche Maßnahmen umgesetzt werden sollten.
Die Einrichtung
- formuliert in ihren Grundsätzen (Leitbild des Trägers), grundlegende Überzeugungen und Ziele bezüglich des Zusammenlebens in einer vielfältigen Gemeinschaft,
- formuliert Grundsätze, die eine Orientierung für einen gemeinsamen Handlungsrahmen bieten,
- kommuniziert die Haltung des Kollegiums in Fragen von Vielfalt, Respekt und Gleichberechtigung nach außen hin für jeden sichtbar (Flyer, Broschüren, Informationswand, Plakate etc.),
- verfügt über Hausregeln, die klare Konsequenzen bei wiederholten Regelverstößen vorgeben,
- hängt die Hausregeln für alle sichtbar aus, die jeder Bewohner bzw. jede Bewohnerin gelesen, verstanden und unterschrieben hat (Informationswand),
- verfügt über Mitbestimmungsgremien (z.B. Rat der Bewohnerinnen und Bewohner, Plenum, Etagenversammlungen), die divers zusammengesetzt sind,
- bezieht Ehrenamtliche und Anwohnerinnen und Anwohner in den Unterkunftsalltag ein,
- initiiert oder beteiligt sich an Aktivitäten mit der Nachbarschaft und dem weiteren Umfeld (Dialog- oder Informationsveranstaltungen, Feste, gemeinsame Sportveranstaltungen, Tag der offenen Tür etc.),
- achtet bei ihrem Freizeitangebot auf die diverse Zusammensetzung der Teilnehmenden (Alter, Geschlecht, Herkunft, Bewohnerinnen und Bewohner, Haupt-und Ehrenamtliche, Anwohnerinnen und Anwohner),
- bietet Dialog- und Bildungsformate zum Thema „Normen und Werte“ an (z.B. Gesprächsrunden, Frauenrunden, Workshops, Exkursionen).
Das Team
- ist vielfältig zusammengesetzt (Alter, Geschlecht, Herkünfte, Sprache, Lebensstile etc.),
- pflegt einen wertschätzenden und respektvollen Umgang miteinander (haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende, weiteres Personal),
- orientiert sich bei der Arbeit am Leitbild und an den Hausregeln, da sie wichtige Werte und Normen widerspiegeln,
- hat eine gemeinsame Haltung und es gibt regelmäßig Absprachen zu relevanten Fragen des Zusammenlebens in der Einrichtung,
- entwickelt und trainiert Handlungskompetenzen und Verhaltensroutinen im Umgang mit interkulturellen Konflikten,
- nimmt sich regelmäßig Zeit für Reflexion (kollegiale Fallberatung, Supervision, Teamsitzungen, Fort-/Weiterbildungen),
- kooperiert klar definiert und transparent mit dem Wachschutz.
Umgang mit Diskriminierung
Das Team/die Einrichtung
- hat eine gemeinsame Handlungsrichtlinie (Leitbild, Hausregeln, teaminterne Absprachen),
- kommuniziert klar, dass diskriminierendes Verhalten inakzeptabel ist,
- informiert alle Bewohnerinnen und Bewohner über Rechte, Gesetze und Schutzmechanismen im Falle von Diskriminierung (Beratungsstellen, gesonderte Unterbringungen etc.),
- schafft einen Rahmen für die Bewohnerinnen und Bewohner zur Aufklärung über und zur Aufarbeitung von Diskriminierungen,
- bietet Hilfestellungen für von Diskriminierung Betroffene,
- schützt Minderheiten und besonders Schutzbedürftige,
- gibt Raum für teaminterne Diskussionen, Fragen und Feedback.
Fragen zur Selbstreflexion bei interkulturellen Konflikten
Neben den Rahmenbedingungen in der Einrichtung und einem abgestimmten Handeln im Team ist die eigene Haltung im Umgang mit Konflikten wesentlich. Mit den folgenden Fragen kann die eigene Haltung reflektiert werden, um mehr Handlungssicherheit zu erlangen und dadurch auch dem Gegenüber mehr Orientierung zu geben.
- Kenne ich die gesetzlichen Rahmenbedingungen und weiß, wann ich einen Auftrag zum Handeln habe?
- Wie stehe ich selbst zu den Normen und Werten unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft?
- Welche Werte sind mir in meiner Arbeit besonders wichtig?
- Schaffe ich einen geschützten Raum für Konfliktgespräche (Raum, Zeit, Ressourcen)?
- Muss ich sofort reagieren oder habe ich noch Zeit, mich zu besinnen und/oder im Team abzusprechen bzw. externe Unterstützung zu organisieren?
- Gelingt es mir, in Konfliktfällen klar und konsequent aufzutreten?
- Kenne ich Deeskalationsstrategien und kann diese im Konfliktfall anwenden?
- Wo liegen meine eigenen Grenzen?
- Wo sind meine Grenzen der Kompromissfindung? Wann sind Kompromisse bei Konflikten hilfreich?
- Gelingt es mir, gegenüber Schutzbedürftigen und Personen einer anderen ethnischen Zugehörigkeit konstruktive Kritik zu äußern?
- Wo habe ich selbst vorgefertigte bzw. verfestigte Meinungen gegenüber bestimmten Personen/Gruppen?
- Inwieweit nehme ich diskriminierendes Verhalten wahr?