HandlungsempfehlungenHandreichung

Angekommen in der Migrationsgesellschaft. Grundlagen der Lehrerbildung auf dem Prüfstand

Thema

Lehrerbildung in einer Migrationsgesellschaft

Herausgeberschaft

Stiftung Mercator

Autoren/Autorinnen

Yasemin Karakaşoğlu/Anna Aleksandra Wojciechowicz/Paul Mecheril/Saphira Shure

Erscheinungsort

Essen

Erscheinungsjahr

2017

Stiftungsengagement

Stiftung Mercator

Literaturangabe

Stiftung Mercator (Hrsg.): Angekommen in der Migrationsgesellschaft. Grundlagen der Lehrerbildung auf dem Prüfstand. Essen 2017.

Ziel, Fragestellung, Vorgehensweise

Ausgangspunkt ist, dass Globalisierung und weltweite Migration die gesellschaftliche Wirklichkeit und damit auch die Schule prägen und verändern. Die Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass die Vielfalt der Migration in der Gesellschaft zu Formen kultureller Vermischung und zur Entstehung von „Zwischenwelten“, zu neuen Formen der Bürgerschaft und zur politischen wie öffentlichen Auseinandersetzung über Fragen der (postnationalen) Identität führt. Unterschiedliche persönliche Hintergründe und Deutungen der Geschichte würden dabei aufeinandertreffen. In den Schulen spielten verschiedene Apsekte eine Rolle, unter anderem transnationale Migrationserfahrungen, die Vielfalt von Sprachen, unterschiedliche biografische Erfahrungen sowie Lebensentwürfe, aber auch unterschiedliche aufenthaltsrechtliche Status.

Empirische Studien würden immer wieder belegen, dass Lehrkräfte bei der (Re-)Produktion von Stereotypen eine große Rolle spielen und dadurch negativen Einfluss auf die schulischen Leistungen von Schülerinnen und Schülern haben können. In der Lehrerbildung gibt es seit den 1980er-Jahren zwar Ansätze, die mit Migration zusammenhängenden Veränderungen der Schulen stärker einzubeziehen, doch sei der Erfolg sehr unterschiedlich.

Vor diesem Hintergrund wird die Frage gestellt, inwiefern die Lehrerbildung die erforderlichen Voraussetzungen dafür schafft, dass Lehren und Lernen in der Schule einer Migrationsgesellschaft gelingen kann. Ein Indikator dafür sei unter anderem, ob es zum Selbstverständnis der Schulen und der Lehrkräfte gehört, sensibel für Differenzen zu sein sowie Diskriminierung zu reflektieren, ihr entgegenzutreten und diese Haltung auch den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln.

In der vorliegenden Handreichung werden Ergebnisse einer qualitativen Studie zum „Pädagogischen Können in der Schule der Migrationsgesellschaft“ vorgestellt und daraus Empfehlungen für eine zeitgemäße Lehrerbildung in der Migrationsgesellschaft abgeleitet.

Die Studie nimmt in einem mehrstufigen Verfahren die drei Phasen der Lehrerbildung – erstens das Studium, zweitens das Referendariat und drittens den Fortbildungsbereich – über ausgewählte Textsorten in den Blick. Dazu werden auf Landesebene Modulbeschreibungen der Universitäten, Curricula für das Referendariat und Fortbildungsangebote untersucht. Bundesländerübergreifend werden solche Rahmen- und Bezugstexte analysiert, die von Akteuren wie Ministerien, Bildungsbehörden oder Fortbildungsinstituten als Grundlage für die Ausgestaltung der Lehrerbildung herangezogen werden. Einen bundesweiten Einblick ermöglichen die Analysen ausgewählter Texte der Kultusministerkonferenz, der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und der Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Einen besonderen Fokus legt die Studie auf Texte zu den drei Phasen der Lehrerbildung in den Bundesländern Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen.

Die Studie wurde von der Stiftung Mercator gefördert und in Kooperation zwischen der Universität Bremen, Fachgebiet Interkulturelle Bildung (Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Dr. Anna Aleksandra Wojciechowicz) und der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Center for Migration, Education and Cultural Studies (Prof. Dr. Paul Mecheril, Saphira Shure) erstellt. Ziel ist es, Impulse für eine Stärkung der Lehrerbildung zu geben und zu einer Neuausrichtung der Lehrerbildung anzuregen.

Wichtige Ergebnisse

Thesen der Studie zur gegenwärtigen Lehrerbildung

  • Migration wird als Problem dargestellt: In der Lehrerbildung werde Migration primär als Problem, Herausforderung, Krise oder Störung für die Bildungsinstitutionen thematisiert und häufig auf eine Art technisches Problem für Lehrkräfte im Rahmen von Unterrichtssituationen reduziert. Vielfalt und Pluralität werde als personalisierte Eigenschaft verstanden und in Schule und im Klassenraum einer bestimmten Gruppe zugeschrieben – den Schülerinnen und Schülern „mit Migrationshintergrund“ –, die dadurch zur Ursache eines Problems oder sogar zum Problem selbst erklärt werden. Eine Auseinandersetzung mit migrationsgesellschaftlichen Fragen erfolge fast immer über die Vermittlung von empirischen Daten, Fakten und Statistiken, die zumeist nicht hinterfragt werden und sich auf die Gruppe der Migrantinnen und Migranten beziehen. Dabei würden die Migrantinnen und Migranten als Problemfälle mit Förderbedarf gesehen. Im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung werde das Thema Migration häufig darauf reduziert, dass die als „Mängelwesen“ adressierten Migrantinnen und Migranten gefördert und deren Defizite kompensiert werden müssen. Diese problemfixierte Perspektive auf Migrantinnen und Migranten festige bei (angehenden) Lehrkräften dichotome Weltbilder von „wir“ und „die anderen“ und verhindere die Entwicklung einer pädagogischen Sicht auf die konkreten Lernbedingungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler.
  • Das Verständnis von pädagogischem Können ist zu mechanisch: Migration werde als Problem verstanden, mit dem „umgegangen“ werden muss. Vor diesem Hintergrund würden dann die Fragen nach der technischen Handhabbarkeit und „Bearbeitbarkeit“ von Schülerinnen und Schülern „mit Migrationshintergrund“ gestellt, etwa durch pädagogische Interventionen im Rahmen von Förderplänen. Häufig werde nicht thematisiert, dass die (angehenden) Lehrkräfte lernen müssen, (selbst-)reflexiv mit ihren Einstellungen und Haltungen zu Migration umzugehen. Auch bleibe vielfach offen, welche Rolle die Lehrerinnen und Lehrer selbst bei der Herstellung von Ungleichheit in der Schule spielen, zum Beispiel durch die bewusste und unbewusste (Re-)Produktion von Stereotypen.
  • Unterricht und Gesellschaft sind voneinander losgelöst: Die untersuchten pädagogischen Texte in der Lehrerbildung fokussierten häufig auf den Klassenraum und die durch Schülerinnen und Schüler eingebrachten Unterschiede. Historische und gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse wie zum Beispiel globale Ungleichheiten erschienen in ihrer Bedeutung für die organisatorische und curriculare Ausgestaltung von Schulen nur als Randthemen. Theoretische und in der Wissenschaft intensiv diskutierte Fragen zu Differenz- und Diskriminierungsverhältnissen (border studies, postcolonial studies, race studies) würden kaum aufgegriffen und in ihrer schulpädagogischen Bedeutung diskutiert.
  • Lehrkräfte sind ausschließlich weiße Mehrheitsangehörige: Lehrkräfte würden durchgängig als Personen „ohne Migrationshintergrund“ adressiert, die den Umgang mit den migrationsgesellschaftlich „anderen“ Personen lernen müssen. Dies verstärke eine problematische gesamtgesellschaftlich vorherrschende Sichtweise von Subjekt („ohne Migrationshintergrund“) und Objekt („mit Migrationshintergrund“). In diesem Zugang seien Studierende und Lehrkräfte „mit Migrationshintergrund“ nicht vorgesehen. Das entspreche nicht der von der Bildungspolitik geforderten Vielfalt im Lehrerzimmer.
  • Das Gymnasium ist nahezu „migrationsgesellschaftsfrei“: Migrationsgesellschaftliche Themen hätten wenig Platz in der Lehrerbildung für alle Schulformen und -stufen. In welchen Anteilen Migration verpflichtendes Element ist (etwa über Pflicht-, Wahlpflicht-modul oder Zusatzqualifikation), variiere abhängig von der jeweiligen Schulform. Mit steigender Schulform sinke die Relevanz des Themas Migration in der Ausbildung von Lehrkräften. Dies bestärke die falsche Vorstellung, dass migrationsgesellschaftliche Fragen für Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulformen irrelevant seien.

Hauptergebnis ist, dass die Migrationsgesellschaft in der Lehrerbildung noch nicht angekommen ist.

Empfehlungen für eine zeitgemäße Lehrerbildung in einer Migrationsgesellschaft

1. Migration als Normalfall thematisieren

Die Idee des „Spezialwissens“ über Schülerinnen und Schüler „mit Migrationshintergrund“ und ihre spezielle „Behandlung“ sollte überwunden werden. Elementar sei vielmehr Wissen darüber, wie Migrationsphänomene entstehen bzw. inwiefern und auf welche Weise sie alle Menschen betreffen. Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft müsse als Querschnittsaufgabe institutionell verankert werden.

2. Gesellschaftstheoretisch und historisch reflektierende Ansätze aufnehmen

In kaum einem der untersuchten Texte seien Ansätze zu finden, die (angehenden) Lehrkräften die Möglichkeit eröffnen, die aktuellen Themen um Migration und Bildung historisch zu kontextualisieren. Notwendig sei deshalb eine stärker gesellschaftsanalytische und historisierende Auseinandersetzung mit Migrationsphänomenen und Zugehörigkeitsverständnissen. Nur so könnten die Hintergründe der neuen Entwicklungen in der Klassen, in der Schule und im sozialen Umfeld professionell und nicht nur alltagstheoretisch gedeutet werden.

3. Reflexive Perspektiven stärken

Sowohl die Produktion als auch der Ausschluss „anderer“ durch professionelles pädagogisches Handeln sei zwar nicht ganz zu vermeiden, doch könnten Formen von Ausschluss in unterschiedlichen schulischen Handlungsfeldern beschrieben, analysiert und so verändert werden, dass mehr Bildungsgerechtigkeit möglich wird. Daher sei es Aufgabe der Bildungsinstitutionen, ihre eigenen Praktiken und Routinen dahingehend zu überprüfen, wo und wie eine Ungleichbehandlung dazu führt, dass Schülerinnen und Schülern Lern- und Bildungsmöglichkeiten verschlossen bleiben.

4. Differenzfreundliches und diskriminierungskritisches Können verankern

Eine wesentliche Aufgabe pädagogischen Könnens unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen sei, dass Lehrkräfte für die Vielfalt an unterschiedlichen Sichtweisen und Bildungsbiografien sensibel sind. Gleichzeitig müssten sie stereotype und stigmatisierende Fest- und Zuschreibungen erkennen und selbst vermeiden. Die Lehrerbildung sollte deshalb im Studium, im Referendariat und im Fortbildungsbereich eine solche Perspektive als Schlüsselqualifikation verankern. Dazu sei es notwendig, die Curricula der Lehrerbildung einer grundlegenden Revision zu unterziehen.